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Medizinrecht: Beweislastumkehr bei Verletzung der Pflicht zur sachgerechten Patientennachbehandlung

Bundesgerichtshof, Urteil vom 04.06.2024 – VI ZR 108/23

Hintergrund

Die Kläger wurde am 29.07.2016 in der 25. Schwangerschaftswoche in einem von der beklagten Krankenhausträgerin betriebenen Krankenhaus geboren und anschließend in der dortigen Klinik für Kinder- und Jugendmedizin versorgt. Der ausgerechnete Geburtstermin wäre der 10.11.2016 gewesen.

Der Prozess der vollständigen Ausbildung des Sehnervs ist erst mit dem Zeitpunkt des regulären Geburtstermins abgeschlossen, weshalb bei Frühgeborenen ein erhöhtes Risiko für eine gestörte Blutgefäßentwicklung der Netzhaut des Sehnervs (sogenannte Frühgeborenen-Retinopathie) besteht. Daher wurden im Nachgang der Geburt regelmäßig augenärztliche Untersuchungen bei dem Kläger vorgenommen, zuletzt am 18.10.2016, die keine Anzeichen auf eine solche Retinopathie ergaben, woraufhin der Kläger Ende Oktober 2016 aus der stationären Behandlung nach Hause entlassen wurde.

Am 24.11.2016 wurde bei dem Kläger in einer anderen Universitätsklinik eine Frühgeborenen-Retinopathie diagnostiziert, in Folge derer eine erfolgreiche Behandlung des rechten Auges nicht mehr möglich war, eine einseitige Erblindung eintrat und eine Behandlung des linken Behandlung nur leichte Erfolge erzielte.

Vorliegend geht es um den Vorwurf ärztlichen Fehlverhaltens insofern, als dass eine erneute augenärztliche Kontrolle erst nach drei Monaten empfohlen wurde, obwohl diese zwingend zum ursprünglich geplanten Geburtstermin hätte erfolgen müssen. Im Falle einer rechtzeitigen Kontrolle hätte die Retinopathie erkannt, behandelt und eine Erblindung verhindert werden können.

Der Kläger nimmt daher die beklagte Krankenhausträgerin auf Ersatz des materiellen und immateriellen Schadens in Anspruch. Das erstinstanzlich befasste Landgericht Oldenburg wies die Klage ab, das Oberlandesgericht Oldenburg gestand dem Kläger in der Berufungsinstanz ein Schmerzensgeld in Höhe von 130.000 € zuzüglich Zinsen sowie die Erstattung der vorgerichtlichen Anwaltskosten zu. Es bejahte einen ärztlichen Behandlungsfehler, der jedoch nicht als grob eingestuft wurde und dessen Kausalität für die Sehbeeinträchtigung bejaht wurde. Außerdem stellte es die Verpflichtung der Beklagten zum Ersatz von zukünftigen immateriellen und materiellen Schäden fest. Gegen diese Entscheidung legte die Beklagte Revision zum Bundesgerichtshof ein.

Gründe

Der Bundesgerichtshof lehnte eine Anwendung der Umkehr der Beweislast, wie sie in § 630h Abs. 5 Satz 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) für den Fall der Unterlassung der Erhebung oder Sicherung eines medizinisch gebotenen Befundes vorgesehen ist, auf den Fall, dass der Behandlungsfehler in einem Fehler der therapeutischen Information liegt, ab.

Im Falle eines Befunderhebungs- oder Befundsicherungsfehlers kehrt sich die Beweislast hinsichtlich der Ursächlichkeit des Behandlungsfehlers für die entstandene Körper- oder Gesundheitsverletzung dergestalt um, dass diese Kausalität vermutet wird. Diese Vermutung wendet der Bundesgerichtshof entsprechend seiner ständigen Rechtsprechung auf diese, jedoch nicht auf anderweitige Arten von ärztlichen Fehlern an. Das Oberlandesgericht Oldenburg wertete den vorliegenden Fehler, keinen früheren Kontrolltermin zu empfehlen, als fehlerhafte Sicherungsaufklärung und erstreckte die Beweislastumkehr auch auf diese Art des ärztlichen Fehlverhaltens. Eine Erstreckung der Beweislastumkehr auf andere Behandlungsfehler, in deren Folge eine medizinische Befunderhebung nicht erfolgt, lehnte der Bundesgerichtshof jedoch ab.

Im Ergebnis kommt eine Beweislastumkehr im vorliegenden Fall dennoch in Betracht, da der Bundesgerichtshof den ärztlichen Fehler vorliegend – anders als das Oberlandesgericht Oldenburg – nicht als eine fehlerhafte Sicherungsaufklärung, sondern als einen Befunderhebungsfehler ansah, für den die Beweislastumkehr gerade greifen kann. Da der Kläger vorliegend vor allem geltend macht, dass eine weitere ärztliche Kontrolle erst nach drei Monaten erfolgen sollte, obwohl diese zwingend zum Zeitpunkt des errechneten Geburtstermins hätte erfolgen müssen, liegt der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit vorliegend bei der unterbliebenen Befunderhebung.

Bewertung

Maßgebend prozessentscheidend ist im Medizinrecht der Nachweis der Kausalität zwischen der ärztlichen Pflichtverletzung und der entstandenen Körper- oder Gesundheitsverletzung. Um diesen Nachweis zu vereinfachen, sieht das Gesetz an einzelnen Stellen eine Beweislastumkehr vor, sodass eine Kausalität grundsätzlich vermutet wird und das Nichtvorliegen dieser Kausalität – in der Regel seitens des behandelnden Arztes oder des Krankenhausträgers – gerade bewiesen werden muss.

Der Bundesgerichtshof stellte nun klar, dass es sich bei ärztlichen Fehlern im Rahmen der Patientennachsorge um sogenannte Befunderhebungsfehler handeln kann, für die die gesetzlich vorgesehene Beweislastumkehr greift. Vorliegend wurde das Verfahren zunächst an das Oberlandesgericht Oldenburg zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen, um der beklagten Krankenhausträgerin aus Gründen der prozessualen Fairness die Gelegenheit zu geben, zu den unterlaufenen Versäumnissen Stellung zu beziehen.

Dr. iur. Christoph Roos
Fachanwalt für Medizinrecht

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