
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 15.01.2025 – 5 AZR 284/24, Pressemitteilung Nr. 1/25 vom 15.01.2025
Hintergrund
Bei dem Kläger handelt es sich um einen Arbeitnehmer, der seit dem Jahr 2002 bei der beklagten Arbeitgeberin als Lagermitarbeiter tätig ist und in diesem Zeitraum mehrfach in direktem zeitlichem Zusammenhang zu seinem Urlaub eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (sogenannte „AU“) vorlegte.
Der Kläger erhält ein durchschnittliches Bruttomonatsgehalt von 3.613 €. Im Zusammenhang mit seinem Urlaub in den Jahren 2017, 2019 und 2020 reichte der Kläger jeweils eine „AU“ ein, die im direkten zeitlichen Anschluss an seinen Erholungsurlaub erfolgte. So machte er etwa im August und September 2022 Urlaub in Tunesien und teilte seiner Arbeitgeberin am 07.09.2022, zwei Tage vor dem Ende dieses Urlaubs, mit, dass er bis zum 30.09.2022 krankgeschrieben sei.
Dabei legte er eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung eines tunesischen Arztes bei, in der dem Kläger „schwere Ischialbeschwerden“ attestiert wurden, weshalb der Kläger für eine Dauer von 24 Tagen häusliche Ruhe einhalten müsse und sich während dieses Zeitraums nicht bewegen oder reisen dürfe. Der Kläger buchte am darauffolgenden Tag ein Fährticket von Tunis nach Genua für den 29.09.2022 und reiste an diesem Tag dann zunächst per Fähre und anschließend weiter mit dem PKW zurück nach Deutschland. Nach seiner Rückkehr legte der Kläger eine weitere „AU“ eines deutschen Arztes vom 04.10.2022 vor, welche ihm eine Arbeitsunfähigkeit bis zum 08.10.2022 attestierte.
Die Beklagte erkannte die Bescheinigung des tunesischen Arztes nicht als „AU“ an, woraufhin der Kläger eine erneute Bescheinigung des tunesischen Arztes, in der die Arbeitsunfähigkeit des Klägers während des fraglichen Zeitraums weiter beschrieben wurde, vorlegte. Die Arbeitgeberin lehnte dennoch eine Entgeltfortzahlung für den maßgeblichen Zeitraum ab und kürzte das Gehalt des Klägers für den Monat entsprechend um den anteiligen Betrag von 1.583 €.
Der Kläger begehrte daher die Entgeltfortzahlung der verbleibenden Summe für den Monat September 2022 vor dem Arbeitsgericht München, welches die Klage jedoch abwies. Das Landesarbeitsgericht München gab dem Kläger Recht und verurteilte die Beklagte zur Zahlung. Dagegen legte die Beklagte Revision vor dem Bundesarbeitsgericht ein.
Gründe
Die Revision der Beklagten war erfolgreich und das Verfahren wurde zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht München zurückverwiesen. Grundsätzlich hat eine im Ausland ausgestellte „AU“ den gleichen Beweiswert wie ein in Deutschland ausgestellter Nachweis der Arbeitsunfähigkeit. Dies gilt jedoch nur, wenn die im Ausland ausgestellte „AU“ erkennen lässt, dass der ausstellende Arzt zwischen der bloßen Erkrankung und einer Krankheit, die eine Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers nach sich zieht, unterschieden hat.
Um den Beweiswert einer „AU“ zu beurteilen, muss zum einen auf die vorgetragenen Einzelaspekte der Ausstellung und die tatsächlichen Umstände geachtet werden, zum anderen sind diese Einzelumstände auch in einer rechtlichen Gesamtschau zu betrachten. Letzteres hat das Landesarbeitsgericht München hier unterlassen, wie das Bundesarbeitsgericht feststellte. Die einzelnen Aspekte der Ausstellung der ausländischen „AU“ mögen vorliegend unverfänglich sein, jedoch entstehen bei einer Gesamtwürdigung aller Umstände Zweifel an dem Beweiswert der Bescheinigung.
Zu beachten ist einerseits, dass der Kläger am Tag nach seiner Krankschreibung ein Fährticket für den 29.09.2022 buchte und die langwierige Reise nach Deutschland auch an diesem Tag antrat, obwohl er sich bis zum 30.09.2022 aufgrund der ärztlichen Anordnung ausruhen und nicht bewegen sollte. Ebenfalls zu berücksichtigen ist, dass der Kläger in der Vergangenheit bereits mehrfach unmittelbar an seinen Urlaub anschließende Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen eingereicht hatte. Letztlich bestehen daher insgesamt Zweifel an der Glaubwürdigkeit der in Tunesien ausgestellten „AU“.
Bewertung
Das Landesarbeitsgericht München hat nun Feststellungen dahingehend zu treffen, ob dem Kläger tatsächlich kein Anspruch auf Entgeltfortzahlung aufgrund eines Krankheitsfalles zusteht. Das Bundesarbeitsgericht sah den Beweiswert der „AU“ vorliegend als erschüttert an, was dazu führt, dass dem Kläger nun die volle Darlegungs- und Beweislast hinsichtlich des Bestehens einer Krankheit, die ihn an der Erbringung seiner Arbeitsleistung gehindert hat, obliegt.
Den Beweis der Arbeitsunfähigkeit hat grundsätzlich der Arbeitnehmer zu erbringen – ihn trifft die Darlegungs- und Beweislast, welcher durch das Vorlegen einer AU entsprechend des § 5 Abs. 1 Satz 2 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) in der Regel Genüge getan ist. Deren Beweiswert kann nur erschüttert werden, wenn der Arbeitgeber qualifiziert vorträgt, warum in diesem Einzelfall der AU ein verminderter oder gar kein Beweiswert zukommen sollte. Dies hat die beklagte Arbeitgeberin im vorliegenden Fall getan, sodass die Beweislast nun wieder dem Kläger zufällt.
Dr. iur. Christoph Roos
Fachanwalt für Arbeitsrecht
Unsere Fachanwälte in Bonn betreuen seit vielen Jahren sowohl Arbeitgeber- als auch die Arbeitnehmerseite zu allen entscheidenden arbeitsrechtlichen Fragen. Lesen Sie mehr zu den Tätigkeitsschwerpunkten unserer Kanzlei unter www.rnsp.de.