Bundesgerichtshof, Urteil vom 05.12.2023 – VI ZR 108/21
Hintergrund
Bei den Klägerinnen dieses Falles handelt es sich um die Träger der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung, die aufgrund eines behaupteten Behandlungsfehlers bei der Geburt eines bei ihnen versicherten Kindes Schadensersatz aus übergegangenem Recht verlangen.
Die Mutter des Kindes suchte am Morgen des 10.09.2009 bei einsetzender Wehentätigkeit das Krankenhaus, in dem die eine Beklagte eine gynäkologische und geburtshilfliche Gemeinschaftspraxis, die als Gesellschaft bürgerlichen Rechts betrieben wird, unterhält, auf. Bei den anderen beiden Beklagten handelt es sich um persönlich haftende Gesellschafter der Gemeinschaftspraxis. Außerdem verklagt wurden ein Assistenzarzt in Weiterbildung, der bei der Gemeinschaftspraxis zu diesem Zeitpunkt angestellt war und eine in dem Krankenhaus tätige Beleghebamme, welche die Betreuung der Geburt übernahm.
Nach Eintreffen der Mutter im Krankenhaus wies diese im Verlaufe des Nachmittages ein letztlich gegen 16 Uhr hochpathologisches CTG auf, um 19:10 Uhr wurde erneut ein hochpathologisches CTG festgestellt und gegen 19:45 Uhr zeigte das CTG eine Bradykardie, also einen verlangsamten Herzschlag. Daraufhin folgte ein Notkaiserschnitt des Kindes, da es weiterhin zu einem massiven Herztonabfall kam.
Ein Operationsbericht des Kaiserschnitts existiert nicht, am Folgetag fertigten einzelne Beklagte Berichte über die Geschehnisse an, so unter anderem die beklagte Hebamme. Das Kind war zum Zeitpunkt der Geburt leblos und wies keine eigene Atmung auf. Es wurde von dem zuständigen Anästhesisten reanimiert und 15 Minuten nach der Geburt vom pädiatrischen Notdienst übernommen. Infolge der Geburt erlitt das Kind eine irreversible Hirnschädigung, aufgrund derer die Klägerinnen fortlaufend Leistungen der Kranken- und Pflegeversicherung erbringen.
Die Klägerinnen sind der Ansicht, dass es zu groben Pflichtverletzungen der Beklagten gekommen sei, und wandten sich daher an das Landgericht Trier, welches feststellte, dass die beklagte Hebamme grob behandlungsfehlerhaft gehandelt habe und auf das hochpathologische CTG nicht zeitig reagiert habe, da spätestens gegen 16 Uhr eine zwingende Indikation bestanden habe, den diensthabenden Arzt zu informieren. Pflichtverletzungen der anderen Beklagten stellte das Landgericht Trier nicht fest und wies die Klage insofern ab.
Dagegen wandten sich die Klägerinnen an das Oberlandesgericht Koblenz, welches auch die Klageansprüche gegen die anderen Beklagten bejahte. Daraufhin legten die Beklagten eine Revision vor dem Bundesgerichtshof ein.
Gründe
Maßgebend war im vorliegenden Fall der Anwendungsbereich des § 630h Abs. 3 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) und die Verteilung der Beweislast hinsichtlich der Frage, ob der beklagte Assistenzarzt das CTG um 19:10 Uhr gesehen hatte und dennoch zunächst keinen Notkaiserschnitt einleitete. Das Oberlandesgericht Koblenz legte die Beweislast dafür, dass der Assistenzarzt das CTG nicht bereits um 19:10 Uhr gesehen hatte, den Beklagten auf. Diese Beweislastverteilung kritisierte der Bundesgerichtshof in seinem Revisionsurteil.
Grundsätzlich ist es die Aufgabe des Anspruchsstellers, einen Behandlungsfehler des Arztes nachzuweisen und das Landgericht Trier konnte eine Wahrnehmung des CTG um 19:10 Uhr durch den Assistenzarzt aufgrund der unklaren Beweislage nicht feststellen. Aufgrund eines Vermerks in dem am darauffolgenden Tage von der beklagten Hebamme geschriebenen Geburtsverlauf, dass sie das CTG dem Assistenzarzt gezeigt habe, leitete das Oberlandesgericht Koblenz eine Beweislastumkehr zugunsten der Klägerinnen dahingehend ab, dass der Inhalt des Geburtsberichts als wahr zu unterstellen sei.
Einer solchen Beweislastumkehr trat der Bundesgerichtshof in seinem Urteil entgegen, indem er feststellte, dass der Inhalt des Geburtsberichts nicht zugunsten des Beweisführers als richtig zu unterstellen ist, soweit nicht der Beweisgegner das Gegenteil beweist. Die Beurteilung, ob der Inhalt des Geburtsberichts richtig ist, unterliegt der freien tatrichterlichen Beweiswürdigung. Insbesondere kann die Indizwirkung einer schriftlichen Dokumentation dadurch erschüttert werden, dass Umstände vorliegen, die die inhaltliche Richtigkeit zweifelhaft erscheinen lassen.
So fehlt es insbesondere an dem erforderlichen Indizwert, wenn in der Patientenakte Umstände festgehalten wurden, die sich im konkreten Fall zu Lasten des Beweisgegners auswirken und nicht ausgeschlossen ist, dass zum Zwecke der Vermeidung eigener Haftung ein Vorgang in einer gewissen Weise dokumentiert wurde. Auch die Vermutung des § 630h Abs. 3 BGB lässt keinen anderen Schluss zu, da dieser nicht die Vermutung aufstellt, dass eine dokumentierte Maßnahme tatsächlich durchgeführt wurde.
Daher hob der Bundesgerichtshof die Verurteilung des beklagten Assistenzarztes auf, da die Beweiswirkung des von der Hebamme verfassten Geburtsberichts erneut vom Oberlandesgericht Trier zu beurteilen ist unter Zugrundelegung der Auffassung des Bundesgerichtshofs hinsichtlich einer etwaigen Beweiserschütterung des Geburtsberichts durch die Patientenakte.
Bewertung
Grundsätzlich obliegt es dem Kläger, die Voraussetzungen eines Schadensersatzanspruches zu beweisen, ihn trifft somit die Beweislast. Dies gilt auch in medizinrechtlichen Verfahren, sodass die Beweislast für das Vorliegen eines Behandlungsfehlers und eines daraus kausal resultierenden Gesundheitsschadens des Patienten diesem obliegt.
Um den in der Praxis bestehenden Beweisschwierigkeiten entgegenzuwirken, existiert etwa die Vorschrift des § 630h Abs. 3 BGB, wonach hinsichtlich einer nicht in der Patientenakte dokumentierten Maßnahme vermutet wird, dass diese Maßnahme auch tatsächlich nicht getroffen wurde. Diese Vermutungswirkung erstreckt sich jedoch nicht auf die Fiktion der inhaltlichen Richtigkeit, da die Vorschrift keine positive Beweisvermutung statuiert.
Lisa Horn
Anwältin für Medizinrecht
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