
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 16.10.2024 – L 16 KR 101/22
Hintergrund
Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg beschäftigte sich vorliegend mit der Erstattungsfähigkeit von Maßnahmen der künstlichen Befruchtung, wenn zuvor bereits drei erfolglose Kinderwunschbehandlungen erfolgten.
Bei der Klägerin handelt es sich um eine im Jahre 1979 geborene Frau, deren im Jahr 1970 geborener Ehemann an einer schweren Fertilitätsstörung leidet. Im Zuge einer erfolgreichen Kinderwunschbehandlung brachte die Klägerin im Jahr 2010 eine gemeinsame Tochter auf die Welt. Im Jahr 2015 durchlief die Klägerin erneut einen vollständigen Behandlungszyklus mittels intracytoplasmatischer Spermieninjektion (ICSI), den sie zuvor von ihrer in diesem Verfahren beklagten Krankenversicherung genehmigen ließ. Diese Behandlung verlief jedoch ohne Erfolg.
Im November und im Dezember 2015 nahm die Klägerin erneut an zwei Behandlungszyklen mit dem Ziel eines Kinderwunsches teil, wobei diese mittels kryokonservierten Eizellen im Vorkernstadium und außerdem ohne finanzielle Beteiligung seitens der Beklagten erfolgten. Auch diese beiden Behandlungen verliefen nicht erfolgreich. Im Jahr 2018 und im Februar durchlief die Klägerin zwei erneute Kinderwunschbehandlungen zum einen mittels einer ICSI und zum anderen mittels kryokonservierter Eizellen, bei denen es ebenfalls keine Kostenübernahme der Beklagten gab. Einer dieser Versuche führte zunächst zu einer Schwangerschaft, die jedoch in einer Fehlgeburt endete.
Am 28.02.2019 legte die Klägerin bei der Beklagten einen erneuten, ärztlich abgesprochenen Behandlungsplan für eine Kinderwunschmaßnahme mittels ICSI vor und begehrte eine Kostenübernahme. Diese lehnte die Beklagte mit einem Bescheid vom 18.03.2019 mit der Begründung, dass maximal drei Behandlungsversuche erstattungsfähig seien, sofern diese erfolglos gewesen seien, ab. Außerdem sei die Klägerin, da sie im August 2019 ihr 40. Lebensjahr vollendete, altersbedingt nicht mehr anspruchsberechtigt.
Nach erfolgtem Widerspruch wandte sich die Klägerin gegen die Entscheidung der Beklagten an das Sozialgericht Potsdam mit dem Begehren, die hälftigen Behandlungskosten von der Beklagten erstattet zu bekommen. Als gesetzliche Grundlage kommt dafür § 27a Abs. 1 Nr. 2 Halbsatz 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) in Betracht, welcher als Leistung einer Krankenbehandlung auch medizinische Maßnahmen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft vorsieht, wenn eine hinreichende Aussicht besteht, dass durch die Maßnahmen eine Schwangerschaft herbeigeführt wird. Diese hinreichende Aussicht besteht dabei nicht mehr, wenn die Maßnahme drei Mal ohne Erfolg durchgeführt wurde.
Das Sozialgericht Potsdam lehnte einen Anspruch der Klägerin auf hälftige Übernahme der Kosten ab, woraufhin sich diese mit einer Berufung an das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg wandte.
Gründe
Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg bejahte einen Anspruch der Klägerin, da die Kinderwunschmaßnahmen noch nicht drei Mal ohne Erfolg durchgeführt worden seien. Zwischen den verschiedenen Maßnahmen, nämlich der ICSI einerseits und der In-Vitro-Fertilisation andererseits sei zu unterscheiden. Unterschiedliche Maßnahmen der künstlichen Befruchtung dürfen also bei der Zählung der erfolglos durchgeführten Behandlungsversuche nicht miteinander addiert werden.
Als erfolgloser Behandlungszyklus ist daher die von der Beklagten finanzierte künstliche Befruchtung mittels ICSI im Jahre 2015 zu werten. Der Befruchtungszyklus, der in einer Fehlgeburt endete, ist nicht zu berücksichtigen. Die in den Jahren 2015 und 2019 durchgeführten Behandlungsversuche, die von der Klägerin selbstständig finanziert wurden, sind nicht schon aufgrund der Tatsache, dass die beklagte Krankenversicherung an diesen nicht finanziell beteiligt war, als erfolglose Versuche zu werten.
Die Anspruchsberechtigung der Klägerin entfällt außerdem nicht aufgrund ihres Alters, so das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg. Entsprechend der Richtlinien über künstliche Befruchtung des Gemeinsamen Bundesausschusses ist ein Anspruch bei weiblichen Versicherten, die das 40. Lebensjahr vollendet haben, ausgeschlossen, jedoch greift dies nur, wenn dies bereits zum Stimulationstag des streitgegenständlichen Behandlungszyklus der Fall war. Dieser Tag war vorliegend der 31.07.2019 und somit ein Zeitpunkt, zu dem die Klägerin noch nicht 40 Jahre alt war.
Bewertung
Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg stellte in seinem Urteil fest, dass sowohl die In-Vitro-Behandlung als auch die ICSI medizinische Maßnahmen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft darstellen und somit grundsätzlich in einem Umfang von 50 % erstattungsfähig sind. Aufgrund der Fertilitätsstörung des Ehemanns der Klägerin waren diese Maßnahmen nach ärztlicher Feststellung auch erforderlich. Die Ersatzfähigkeit richtet sich grundsätzlich nach § 27a SGB V, dessen Anforderungen genügt werden muss.
Insbesondere war vorliegend problematisch, ob bereits drei erfolglose Versuche der Kinderwunschbehandlung durchgeführt worden waren. Das Gericht stellte jedoch fest, dass die einzelnen Behandlungsmethoden getrennt voneinander zu betrachten sind und nicht aufaddiert werden dürfen. Diese Interpretation ist konsequent mit Hinblick auf den gesetzlichen Wortlaut und den Sinn und Zweck der Vorschrift. Aufgrund der grundsätzlichen Bedeutung des Urteils hat das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg die Möglichkeit einer Revision vor dem Bundessozialgericht zugelassen, weshalb eine höchstrichterliche Entscheidung möglicherweise abzuwarten ist.
Konstantin Theodoridis
Fachanwalt für Sozialrecht
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