
Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Beschluss vom 24.07.2024 – 21 W 146/23
Hintergrund
Beschwerde eingelegt hatte vorliegend die Tochter einer im Jahre 2021 verstorbenen Erblasserin, die mit ihrer Mutter seit ihrem elften Lebensjahr keinen Kontakt gepflegt hatte. Als die zuständige Kriminalbeamtin die Tochter über den Tod ihrer Mutter informierte, berichtete sie von dem unaufgeräumten und chaotischen Zustand der Wohnung sowie dem eher unsicheren Wohnviertel der Erblasserin, woraufhin die Klägerin davon ausging, dass ihre Mutter, die zeitlebens alkoholkrank war, in einem sozialen Brennpunkt lebte und „abgerutscht“ sei.
Die Tochter machte sich kein eigenes Bild von der Situation, sondern schlug das Erbe mit notariell beglaubigter Urkunde vom 07.07.2021 aus, ebenso wie die anderen verbleibenden Erben außer einen Großneffen der Erblasserin, der ebenfalls Beteiligter in dem vorliegenden Verfahren ist. Durch ein Schreiben des gerichtlich angeordneten Nachlasspflegers vom 07.02.2022 erlangte die Tochter Kenntnis von dem verbleibenden, auf einem Girokonto und einem Sparbuch befindlichen Vermögen der Erblasserin, was sich auf 72.078 € belief. Das Girokonto und das Sparbuch waren der Antragsstellein nicht bekannt und aufgrund der Wohnsituation ihrer Mutter ging sie davon aus, dass diese kein Geldvermögen besitze.
Mit notariell beglaubigter Urkunde vom 21.03.2022 erklärte die Tochter die Anfechtung der Ausschlagung der Erbschaft mit der Begründung, dass sie über die Tatsache, dass sich im Nachlass kein Aktivvermögen befinden würde, geirrt habe. Sie beantragte daher die Ausstellung eines Alleinerbscheins aufgrund der gesetzlichen Erbfolge.
Diesem Antrag auf Ausstellung des Erbscheins trat der Großneffe der verstorbenen Erblasserin, der zwischenzeitlich ebenfalls einen Alleinerbschein beantragt hatte, entgegen. Das Nachlassgericht lehnte die Erteilung des Erbscheins zugunsten der Tochter ab, da der Großneffe aufgrund der wirksamen Erbausschlagung der Tochter der gesetzliche Erbe geworden sei. Die Tochter habe nicht über eine verkehrswesentliche Eigenschaft bezüglich des Nachlasses geirrt, da sie keiner konkreten Fehlvorstellung über die Zusammensetzung des Nachlasses unterlegen habe, vielmehr habe sie keinerlei Informationen über die finanzielle Situation der Erblasserin gehabt. Daher sei eine Anfechtung unwirksam.
Gegen diesen Beschluss legte die Tochter Beschwerde beim Oberlandesgericht Frankfurt ein und führte zur weiteren Begründung aus, dass ihr seitens der Polizei mitgeteilt worden sei, dass sich in der Wohnung offensichtlich keine werthaltigen Gegenstände befunden hätten und sich diese in einem unübersichtlichen und primitiven Zustand befunden habe. Außerdem sei ihr seitens der Kriminalbeamtin davon abgeraten worden, die Wohnung zu betreten. Aufgrund ihrer Kindheitserfahrungen, die von der Alkoholkrankheit und der unsicheren finanziellen Lage der Erblasserin geprägt waren, habe die Antragstellerin daher basierend auf konkreten Vorstellungen die Erbschaft ausgeschlagen.
Gründe
Das Oberlandesgericht gab der Tochter Recht und erklärte die Anfechtung für wirksam. Eine Erbschaftsausschlagung kann angefochten werden, wenn ein Irrtum über eine verkehrswesentliche Eigenschaft des Nachlasses vorliegt. Ein solcher Irrtum liegt vor, wenn der Erbe falschen Vorstellungen hinsichtlich des Aktiv- und Passivvermögens und der Zusammenstellung des Nachlasses unterliegt.
Zwar ist der Wert des Nachlasses selber keine Eigenschaft aufgrund derer angefochten werden kann, sondern lediglich Fehlvorstellungen über sogenannte wertbildende Faktoren berechtigen zur Anfechtung. Zu diesen Faktoren gehört jedoch die konkrete Zusammensetzung des Nachlasses, insbesondere die Existenz der beiden Konten.
Die Tochter unterlag auch einer Fehlvorstellung, da sie nicht etwa bewusst auf der Grundlage ungenauer Informationen oder, ohne sich überhaupt irgendwelche Gedanken zu machen, das Erbe ausschlug, sondern irrtümlich der falschen und konkreten Vorstellung unterlag, dass der Nachlass anderweitig zusammengesetzt sei und sie insbesondere über das Vorhandensein des Guthabens auf den beiden Konten irrte. Dabei führte das Oberlandesgericht zwar an, dass die Antragstellerin nicht alle naheliegenden Möglichkeiten wahrgenommen habe, um sich über die Zusammensetzung des Erbes zu informieren, es war aufgrund der Anhörung der Tochter dennoch von der Plausibilität des behaupteten Irrtums überzeugt.
Bewertung
Die Erklärung einer Erbausschlagung kann gemäß §§ 1954, 119 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) angefochten werden mit der Wirkung, dass die Anfechtung gemäß § 1957 Abs. 1 BGB als Annahme der Erbschaft gilt. Eine wirksame Anfechtung setzt voraus, dass diese im Rahmen der gesetzlichen Frist erklärt wurde und ein Anfechtungsgrund vorliegt. Ein Anfechtungsgrund liegt unter anderem bei einem Irrtum über eine verkehrswesentliche Eigenschaft vor, also etwa dem Irrtum über die Zusammensetzung des Nachlasses, genauer dem Bestand an Aktiv- und Passivvermögen. Dabei ist nicht der Wert des Nachlasses selber zu maßgebend – ein Irrtum über eine Überschuldung des Nachlasses ist jedoch relevant im Rahmen der Feststellung der Kausalität.
Der Irrtum über die verkehrswesentliche Eigenschaft muss dabei Kausal für die Ausschlagungserklärung geworden sein. Maßgebend ist dabei, ob der Erbe eine konkrete Fehlvorstellung hatte oder das Fehlen von etwaigen Vermögenswerten für wahrscheinlich hielt. Da die Tochter vorliegend eindeutig aufgrund der geschilderten Umstände davon ausging, dass ihre Mutter über kein Vermögen verfügte, schlug sie das Erbe aus, sodass eine Kausalität richtigerweise zu bejahen war.
Besonders ist in solchen Situationen auf die Einhaltung der Anfechtungsfrist zu achten, welche sechs Wochen ab dem Zeitpunkt, zu dem der Anfechtende von dem Anfechtungsgrund Kenntnis erlangt, beträgt.
Matthias Gollor
Anwalt für Familien- und Erbrecht
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