Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 29.04.2024 – L 1 U 2085/23
Hintergrund
Das Landessozialgericht Baden-Württemberg hat in dem vorliegenden Urteil Grundsätze dafür festgelegt, dass eine Infektion mit dem SARS-CoV-2-Virus als Arbeitsunfall gilt. Zwar wurde in diesem Fall ein Arbeitsunfall verneint, jedoch hat das Urteil wegweisende Wirkung.
Der Kläger des Falles ist als Maschinenbauer und Betriebstechniker tätig. Am 08.03.2021 wurde der Kläger mittels eines PCR-Tests positiv auf Corona getestet, nachdem er bereits am 06.03.2021 ein positives Schnelltestergebnis erhalten hatte. Der Kläger bezog in Folge der Infektion bis Anfang Oktober 2021 Krankengeld, leidet bis heute an den Folgen der Erkrankung und begehrt die Feststellung, dass es sich vorliegend um einen Arbeitsunfall handelt.
Er ist davon überzeugt, sich auf der Arbeit – einem größeren Unternehmen in der Fahrzeugindustrie – durch Kontakt mit einer erkrankten Person angesteckt zu haben. Laut seinem Arbeitgeber hatte es in einer Abteilung zu dem Zeitpunkt, zu dem der Kläger dort arbeitete, einen Corona-Ausbruch gegeben, von dem zwei Mitarbeiter betroffen waren. Insbesondere ein Kollege, dessen positiver PCR-Test vorlag, käme aufgrund des engeren Kontakts mit dem Kläger als Indexperson in Betracht. Darüber hinaus habe es auch in anderen Abteilungen Infektionen gegeben, weshalb von einem größeren Infektionsgeschehen bei dem Arbeitgeber auszugehen sei, so der Kläger.
Die beklagte Berufsgenossenschaft wies die Anerkennung als Arbeitsunfall ab, da ihrer Ansicht nach eine Corona-Infektion eine Allgemeingefahr sei, die lediglich über die gesetzliche Unfallversicherung versichert sei. Die bloße Vermutung, sich auf der Arbeit angesteckt zu haben, genüge nicht, um zweifelsfrei nachzuweisen, dass ein Arbeitsunfall vorliege. Außerdem habe bei den übrigen 35 Infektionsfällen im Betrieb kein Kontakt zu dem Kläger vorgelegen, vielmehr hätten diese Arbeitnehmer sich ihre Infektion stets im privaten oder unbekannten Umfeld zugezogen.
Daraufhin wandte sich der Kläger an das Sozialgericht Karlsruhe, welches den fraglichen Kollegen als Zeugen anhörte, jedoch nicht genügend Grundlage sah für die Annahme, bei dem befragten oder auch einem anderen Kollegen könnte es sich um eine Indexperson handeln, und daher die Klage ablehnte. Der Kläger legte dagegen Berufung beim Landessozialgericht ein, welches das Vorliegen eines Arbeitsunfalls verneinte, jedoch Grundsätze aufstellte, wonach eine Corona-Infektion als Arbeitsunfall gelten kann.
Gründe
Nach Ansicht des Landessozialgerichts wurde nicht hinreichend bewiesen, dass die Infektion des Klägers bei der versicherten Arbeitstätigkeit erfolgte und nicht etwa im privaten Bereich. Aufgrund der Corona-Pandemie bestand generell ein hohes Ansteckungsrisiko in sämtlichen Lebensbereichen, die den Kontakt mit Menschen erforderten.
Der Kläger führte zwar aus, dass eine Infektion nicht auf sonstigem Wege hätte erfolgen können, da seine Kinder im „Homeschooling“ gewesen wären und auch sonst seine sozialen Kontakte auf ein Minimum reduziert gewesen wären. Das Gericht schloss jedoch einen anderweitigen Infektionsweg, etwa beim Einkaufen, aufgrund der massiven pandemiebedingten Ansteckungsgefahr nicht aus. Daher konnte ein ausreichender Beweis einer Infektion auf der Arbeit nicht erbracht werden, und der Kläger hatte keinen Erfolg mit seinem Begehren.
Das Gericht stellte dennoch in seinen Leitsätzen heraus, unter welchen Voraussetzungen eine Corona-Infektion als Arbeitsunfall gelten kann. So muss zunächst ein Kontakt mit einer Indexperson, also einer Person, die nachweislich bereits vor dem Versicherten an dem Corona-Virus erkrankt war, im Rahmen einer versicherten Arbeitsverrichtung erfolgt sein. Die Indexperson muss ihre vorhergehende Infektion mit einem positiven PCR-Test oder ggf. mit einem Schnelltest nachweisen – dass die Indexperson lediglich unspezifische Symptome einer Infektion aufweist, genügt nicht.
Wenn der Vollbeweis eines solchen Kontakts erbracht wurde, er also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststeht, so muss im nächsten Schritt ein Wahrscheinlichkeitszusammenhang zwischen diesem Kontakt und der Infektion des Versicherten bestehen. Dabei sind Dauer und Intensität des Kontakts, das Tragen von Schutzmitteln wie etwa Masken und die räumliche Nähe als Indizien zu betrachten.
Die Tätigkeit, bei der die Infektion erfolgte, muss auch dem Versicherungsschutz zuzuordnen sein, es muss also eine sachliche Verbindung zwischen der konkret ausgeübten Tätigkeit und der gesetzlich versicherten Tätigkeit bestehen – erstere muss also letzterer zugerechnet werden können.
Bewertung
Ein Arbeitsunfall liegt gemäß § 8 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) vor, wenn infolge einer versicherten Tätigkeit ein Unfall geschieht, wobei ein Unfall ein zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis ist, das zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führt, während als versicherte Tätigkeiten solche gelten, die unter §§ 2, 3 oder 6 SGB VII fallen. Eine Corona-Infektion kann als Unfall gelten, wenn sie – wie vorliegend – einen Gesundheitsschaden hervorruft, der etwa zu einer längeren Arbeitsunfähigkeit führt.
Vorliegend wurde der Vollbeweis einer Ansteckung des Klägers durch den als Indexperson vermuteten Arbeitskollegen nicht erbracht. Insbesondere wurde nicht hinreichend spezifisch ausgeführt, dass der Kollege bereits vor seinem positiven PCR-Test Krankheitssymptome auf der Arbeit gezeigt hatte. Können derartige Nachweise jedoch zur Überzeugung des Gerichts erbracht werden, so ist es möglich, dass eine Corona-Infektion als Arbeitsunfall gilt und dementsprechende Versicherungsleistungen erbracht werden.
Konstantin Theodoridis
Fachanwalt für Sozialrecht
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