
Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Urteil vom 27.07.2023 – 1 U 6/21, Pressemitteilung vom 18.08.2023
Hintergrund
Die Frage, ob die Fremdunterbringung eines Kindes in einem Kinderheim während der Dauer eines Familienrechtsstreits zwischen den Eltern unverhältnismäßig sein und das Kind zu einer Entschädigungszahlung berechtigen kann, beschäftigte vor kurzem das Oberlandesgericht Frankfurt am Main.
Bei dem Kläger handelt es sich um ein Kind, das zum maßgeblichen Zeitpunkt sechs Jahre alt war und bei seiner Mutter lebte, da die Eltern getrennt waren, wobei das Kind einen regelmäßigen Kontakt zu dem Vater pflegte. Der Vater teilte dem Jugendamt mit, sein Sohn habe ihm erzählt, dass seine Mutter ihn schlagen würde, und legte dem Jugendamt ein entsprechendes Attest vor. Daraufhin nahm das Jugendamt sich dem Kind an und brachte es in einem Kinderheim unter.
Die Eltern stimmten dieser Unterbringung zunächst zu, und das zuständige Familiengericht teilte dem Jugendamt das Aufenthaltsbestimmungsrecht des Kindes zu. Drei Wochen später widerriefen die Eltern ihre ursprüngliche Einwilligung, jedoch wurde der Beschluss des Familiengerichts erst knapp vier Monate später ausgesetzt und das Kind zu seiner Mutter zurückgebracht. In einem nachfolgenden Verfahren hob das Oberlandesgericht den familiengerichtlichen Beschluss auf und erteilte dem Vater das Sorgerecht. Der Sohn lebt seitdem bei seinem Vater.
Der Kläger begehrt nun eine Entschädigung von der Stadt als Trägerin des Jugendamtes aufgrund einer Verletzung seines allgemeinen Persönlichkeitsrechtes. Das erstinstanzliche Landgericht Frankfurt am Main wies die Klage ab, die Berufung des Klägers an das Oberlandesgericht Frankfurt am Main hatte jedoch teilweise Erfolg.
Gründe
Das Oberlandesgericht stellte zunächst fest, dass in der ursprünglichen Inobhutnahme des Kindes keine Pflichtverletzung des Jugendamtes lag, zumal das Jugendamt den Sachverhalt hinreichend ermittelt und die entsprechend korrekten gerichtlichen Anträge gestellt habe. Die weitere Entscheidung, das Kind in einem Kinderheim unterzubringen, oblag außerdem dem Familiengericht und nicht dem Jugendamt. Zum ursprünglichen Zeitpunkt hatten die Eltern des Kindes auch zugestimmt, das Recht zur Bestimmung des Aufenthaltes des Kindes auf das Jugendamt zu übertragen.
Eine Unterbringung des Kindes in einem Heim ist lediglich rechtmäßig, wenn ein dauerhafter Elternkonflikt in hohem Maße und mit einer hohen Wahrscheinlichkeit das Wohl des Kindes in Gefahr bringt. Eine Fremdunterbringung des Kindes ist immer einer Verhältnismäßigkeitsprüfung zu unterziehen, insbesondere dürfen die Folgen einer Unterbringung in einem Heim nicht schwerer wiegen als der fortdauernde Aufenthalt des Kindes zuhause bei seinen Eltern.
Das Oberlandesgericht hat eine Amtspflichtverletzung einer Jugendamtsmitarbeiterin bejaht, die eine Fremdunterbringung des Kindes weiterhin indizierte, als bereits eine gewisse Zeitspanne vergangen war. Der Aufenthalt des Kindes in einem Kinderheim sei lediglich für einen kurzen Zeitraum gerechtfertigt gewesen, nachdem das Jugendamt Kenntnis davon erhalten hatte, dass die Mutter das Kind körperlich verletzen würde. Eine Fremdunterbringung des Kindes und die Gefahr eines erneuten Missbrauchs hätten jedoch vermieden werden können, wenn das Kind bis zum Zeitpunkt einer endgültigen Sorgerechtsentscheidung in der Obhut des Vaters belassen worden wäre.
Der andauernde juristische Konflikt um das Sorge- und Umgangsrecht mit dem Kind hätte jedoch eine monatelange Unterbringung des Kindes in einem Kinderheim nicht gerechtfertigt. Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main betonte, dass durch eine Fremdunterbringung die Beziehung eines Kindes zu beiden Elternteilen belastet und nachhaltig beeinträchtigt werden würde, daher sei eine solche Maßnahme so kurzfristig wie möglich zu beenden. Das Jugendamt hätte den Kläger daher nicht über einen derart langen Zeitraum in dem Kinderheim unterbringen dürfen.
Diese Maßnahme verletzte den Kläger in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht, weshalb das Oberlandesgericht ihm eine Entschädigung in Höhe von 3.000 € zusprach. Die Stadt als Trägerin des Jugendamtes hat außerdem für künftige Schäden ebenfalls einzustehen.
Bewertung
Die Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main stärkt den Grundsatz, dass das Jugendamt bei der Ausübung des Aufenthaltsbestimmungsrechts des Kindes stets den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit anzuwenden hat. Besteht eine Möglichkeit, das Kindeswohl in gleich effektiver Weise zu schützen, aber gleichzeitig die Eltern-Kind-Beziehung weniger zu belasten, so ist diese Maßnahme umzusetzen. Vorliegend hat das Jugendamt jedoch den Kläger für fast vier Monate in einem Kinderheim untergebracht, obwohl eine Unterbringung bei dem Vater des Kindes ebenfalls möglich gewesen wäre.
Gerade aus Sicht des Kindes stellte sich diese Unterbringung als ungerechtfertigte Maßnahme dar, da der Kläger die Unterbringung als Folge seiner Beschwerde über den Umgang seiner Mutter mit ihm und nicht als Entlastung von dem Konflikt zwischen seinen Eltern wahrnehmen musste.
Bei unverhältnismäßigen oder unrechtmäßigen Entscheidungen des Jugendamtes kann der Jugendamtträger, also die Stadt, aufgrund einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechtes des Kindes zu einer Entschädigungszahlung verpflichtet werden.
Matthias Gollor
Anwalt für Familienrecht
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