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Medizinrecht: Zwangsbehandlung mit Neuroleptika bei Vorliegen einer Patientenverfügung

Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 08.06.2021 – 2 BvR 1314/18 u.a., Pressemitteilung Nr. 66 vom 30.07.2021

Hintergrund

Der Beschwerdeführer war aufgrund einer gerichtlichen Anordnung ab Oktober 2015 in einem Bezirkskrankenhaus im Maßregelvollzug untergebracht. Bereits um Juni 2005 hatte er erklärt, eine Patientenverfügung mit Anordnungen zu lebensverlängernden Maßnahmen sowie Bluttransfusionen getroffen zu haben. Im Januar 2015 hatte er in einem weiteren Schriftstück erklärt, dass er es jedem Arzt, Pfleger (und anderen Personen) verbiete, ihm Neuroleptika in irgendeiner Form gegen seinen Willen zu verabreichen oder ihn dazu zu drängen.

Im September 2016 beantragte das Bezirkskrankenhaus die Zwangsbehandlung, weil er an einer Schizophrenie vom paranoid-halluzinatorischen Typ leide. Die Behandlung sei notwendig, um ihn vor irreversiblen hirnorganischen Schäden zu bewahren. Das zuständige Landgericht erteilte dafür seine Einwilligung.

Auf erneuten Antrag des Bezirkskrankenhauses erteilte das Landgericht mit Beschlüssen aus März und Juni 2017 die Einwilligung in die Fortsetzung der Behandlung bis August 2017. Die eingelegte Beschwerde wies das Oberlandesgericht als unbegründet zurück. Nach erneut erteilter Verlängerung der Zwangsmedikation durch das Landgericht hob das Oberlandesgericht die Entscheidung auf und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landgericht zurück, da das Landgericht das rechtliche Gehör des Beschwerdeführers verletzt habe, indem es davon ausging, dass keine Patientenverfügung vorläge.

Das Landgericht erteilte daraufhin erneut die Einwilligung unter Berücksichtigung der Patientenverfügung, welche einer Zwangsmedikation aber nicht entgegenstehe. Die dagegen gerichtete Rechtsbeschwerde verwarf das Oberlandesgericht als unbegründet.

Der Beschwerdeführer rügt nun eine Verletzung seines Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 1 Abs. 2 Satz 1 GG und seiner Menschenwürde gemäß Art. 1 Abs. 1 GG. Mittelbar richten sich die Verfassungsbeschwerden gegen die die Zwangsbehandlung betreffende Regelung des Art. 6 Abs. 3 bis 6 BayMRVG a. F.

Das Bundesverfassungsgericht hat den Verfassungsbeschwerden teilweise stattgegeben.

Gründe

Die Zwangsbehandlung mit Neuroleptika stellt einen besonders schweren Grundrechtseingriff in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit dar. Dieser Eingriff kann jedoch unter hohen Anforderungen gerechtfertigt sein.

Der Schutz der Allgemeinheit vor Straftaten der untergebrachten Person stellt hierbei keinen geeigneten Rechtsfertigungsgrund dar, da dieser Schutz bereits durch die Unterbringung in einer Anstalt gewährleistet wird. Allerdings können die Grundrechte anderer Personen innerhalb der Maßregelvollzugseinrichtung einen Rechtsfertigungsgrund bilden, da durch die Unterbringung nicht diejenigen schützt, die der Person dort begegnen.

Die Zwangsbehandlung kann jedoch dann nicht gerechtfertigt werden, wenn die untergebrachte Person diese im Zustand der Einsichtsfähigkeit wirksam ausgeschlossen hat. Die Freiheit, über Eingriffe in die körperliche Integrität nach eigenem Ermessen zu entscheiden, ist durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht, verstärkt durch die Inbezugnahme der Menschenwürde besonders gewährleistet. Darüber darf sich der Staat zumindest zum Schutz des Kranken selbst nicht hinwegsetzen.

Die staatliche Pflicht zum Schutz der Grundrechte anderer Personen, die den krankheitsbedingten Übergriffen des Kranken ausgesetzt sind, bleiben davon jedoch unberührt. Die autonome Willensentscheidung des Patienten kann nur so weit reichen, wie seine eigenen Rechte und keine Rechte Dritter betroffen sind. Ob dies sodann als Rechtfertigungsgrund ausreicht, ist strikt an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden.

Diesen Maßstäben genügen die angegriffenen Entscheidungen jedoch nicht. Die Fachgerichte hatten bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschriften Bedeutung und Tragweite der Grundrechte der körperlichen Unversehrtheit und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts unzureichend Rechnung getragen. Die Gerichte haben nicht bedacht, dass das Selbstbestimmungsrecht eine Zwangsbehandlung, die allein dem Schutz des Kranken dient, bei einer entgegenstehenden wirksamen Patientenverfügung von vornherein verbietet. Sie haben zwar die Patientenverfügung als wirksam angesehen, haben jedoch die Feststellung versäumt, ob der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Abgabe einsichtsfähig gewesen ist.

Die Gerichte haben zudem nicht auf Grundrechte Dritter abgestellt, deren Schutz einen Eingriff in die Grundrechte des Beschwerdeführers rechtfertigen könnte. Die Frage, ob die Zwangsbehandlung dadurch gerechtfertigt war, ist einer verfassungsgerichtlichen Prüfung damit nicht zugänglich.

Bewertung

Richtigerweise darf eine Zwangsbehandlung nur angeordnet werden, wenn keine milderen Mittel zur Verfügung stehen und der Versuch unternommen wurde, eine auf Vertrauen gegründete Zustimmung des Patienten zu erlangen. Durch die vorliegende Patientenverfügung wurde der entgegenstehende Wille des Patienten erklärt. Wenn sodann die Anordnung einer Zwangsbehandlung allein auf der Argumentation gründet, dass diese dem Schutz des Patienten selbst dient, werden dessen Recht auf Selbstbestimmtheit völlig missachtet.

Dr. iur. Christoph Roos
Fachanwalt für Medizinrecht

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