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Arbeitsrecht: Kein Ausschluss von EU-Bürgern aus dem Bezug sozialer Grundleistungen bei schulpflichtigen Kindern

EuGH, Urteil vom 06.10.2020 – C-181/19

Hintergrund

Der Kläger, ein seit 2013 mit seinen zwei minderjährigen Töchtern in Deutschland wohnender polnischer Staatsangehöriger, übte in den Jahren 2015 und 2016 mehrere abhängige Beschäftigungen aus. Sämtliche dieser Tätigkeiten wurden in Deutschland ausgeübt, wo auch seine Töchter zur Schule gingen.

Im Jahr 2016 wurde er arbeitslos. Zwischen September 2016 und Juni 2017 bezog er daher nach den deutschen Rechtsvorschriften Leistungen der sozialen Grundsicherung in Form von Arbeitslosengeld II für sich und Sozialgeld für seine Töchter. Seit Januar 2018 geht der Kläger wieder einer Vollzeitbeschäftigung in Deutschland nach.

Für den Zeitraum Juni bis Dezember 2017 beantrage der Kläger im Jobcenter Krefeld die Weiterbewilligung des Arbeitslosengeld II und des Sozialgeldes. Der Antrag wurde jedoch abgelehnt. Begründet wurde dies damit, dass der Kläger im genannten Zeitraum nicht den Arbeitnehmerstatus beibehalten habe und sich darüber hinaus zur Arbeitsuche in Deutschland aufhalte.

Gegen diesen Bescheid reichte der Kläger Klage ein, woraufhin das Sozialgericht der Klage stattgab. In Folge dessen legte das Jobcenter Krefeld Berufung von dem Landessozialgericht ein. Dort wurde das Verfahren ausgesetzt und dem EuGH mit Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt.

Der EuGH nahm daraufhin eine Präzision der Rechte eines früheren Wanderarbeitnehmers mit unterhaltsberechtigten Kindern vor. Diese erfolgte in Bezug auf die Richtlinie 2004/38 sowie die Verordnungen Nr. 492/2011 und Nr. 883/2004.

Gründe

Bei Arbeitslosengeld II und Sozialgeld handelt es sich um „soziale Vergünstigungen“ i. S. d. Verordnung Nr. 492/2011. Die Verordnung steht in Widerspruch zu einer nationalen Regelung, die besagt, dass es grundsätzlich Wanderarbeitnehmern und ihren Kindern nicht möglich ist, derartige Leistungen zu beziehen. Auch die Tatsache, dass er und seine Kinder aufgrund des Schulbesuchs der Kinder gem. Art. 10 der Verordnung ein eigenständiges Aufenthaltsrecht genießen, ändert nichts.

Personen mit einem Aufenthaltsrecht sind in den Schutzbereich der Verordnung Nr. 492/2011 einbezogen. Hieraus ergibt sich ein Recht auf Gleichbehandlung mit Inländern im Bereich der Gewährung sozialer Vergünstigungen. Daran ändert sich auch nichts, wenn sie sich nicht mehr auf die Arbeitnehmereigenschaft berufen können. Die Tatsache, dass sich aus ihr das ursprüngliche Aufenthaltsrecht ergibt, hat keinen Einfluss.

Wanderarbeitnehmer haben einen Anspruch auf Aufenthalt in Deutschland, der sich aus ihrer Arbeitnehmereigenschaft ergibt. Aus diesem wiederum folgt das Aufenthaltsrecht der Kinder von Wanderarbeitnehmern oder früheren Wanderarbeitnehmern, um Zugang zu Unterricht zu erhalten, sofern der Wanderarbeitnehmer der Elternteil ist, der die elterliche Sorge für die Kinder wahrnimmt. Mit Erwerb des Rechts erwächst es zu einem eigenständigen Recht. Es kann auch dann fortbestehen, wenn die Arbeitnehmereigenschaft des Elternteils nicht mehr gegeben ist.

So soll verhindert werden, dass die Kinder von Personen, die die Absicht haben, ihr Herkunftsland zusammen mit ihrer Familie zu verlassen, um in einem anderen EU-Mitgliedstaat tätig zu werden, dem Risiko ausgesetzt sind, ihren Schulbesuch abbrechen müssen und die Familie zurück in ihr Herkunftsland muss, sobald der Elternteil, aus dessen Arbeitnehmereigenschaft sich das Aufenthaltsrecht ursprünglich ergab, arbeitslos wird.

Eine Berufung des Aufnahmemitgliedstaates auf die Richtlinie 2004/38 und die darin vorgesehene Ausnahme vom Grundsatz der Gleichberechtigung in Hinblick auf Sozialhilfe ist in Fällen wie dem vorliegenden ausgeschlossen. So ist es bspw. nur dann erlaubt, die Gewährung von Sozialhilfeleistungen zu versagen, wenn Personen, denen ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche im Aufnahmemitgliedstaates zusteht, die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedsstaates unangemessen in Anspruch nehmen. Eine solche Ausnahme ist jedoch eng auszulegen. Sie findet nur Anwendung auf Personen, deren Aufenthaltsrecht sich lediglich aus der Richtlinie ergibt.

Das Aufenthaltsrecht ergibt sich zwar vorliegend aus dieser Richtlinie, da sich der Kläger und seine Töchter aber auch auf ein eigenständiges Aufenthaltsrecht aus der Verordnung Nr. 492/2011 berufen können, findet die Ausnahme auf sie keine Anwendung.

Vorliegend ist daher eine Ungleichbehandlung gegenüber Inländern im Bereich der Sozialhilfeleistungen gegeben, die gegen die Verordnung Nr. 492/2011 verstößt.

Ist dies der Fall und sind der Wanderarbeitnehmer in ein Sozialversicherungssystem des Aufnahmemitgliedstaates eingebunden, hat er darüber hinaus auch ein Recht auf Gleichbehandlung aus der Verordnung Nr. 883/2004.

Die Versagung eines jeden Anspruchs auf die in Frage stehende Leistung der sozialen Sicherheit, ist ein Verstoß gegen das Verbot der Ungleichbehandlung gegenüber Inländern, da die Situation des Wanderarbeitnehmers und seiner Kinder, die zur Schule gehen, sich weder aus der Richtlinie 2004/38 noch aus der Verordnung Nr. 492/2011 ergeben kann.

Bewertung

Der automatische Ausschluss eines früheren Wanderarbeitnehmers und seiner Kinder von den nach nationalem Recht vorgesehenen Leistungen der sozialen Grundsicherheit kann nicht damit begründet werden, dass der Arbeitnehmer arbeitslos geworden ist, wenn seinen Kindern ein Aufenthaltsrecht aufgrund ihres Schulbesuchs zusteht.

Julia Wulf
Rechtsanwältin

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