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Medizinrecht: Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen das Verbot, einen Blindenhund mitzuführen

BVerfG, Entscheidung vom 30.01.2020 – 2 BvR 1005/18

Hintergrund

In dem Gebäude, in dem sich die Physiotherapiepraxis der Beschwerdeführerin befindet, befindet sich auch eine orthopädische Gemeinschaftspraxis. Ebendiese ist war im Ausgangsverfahren die Beklagte. Um in die Physiotherapiepraxis zu gelangen, musste die blinde Beschwerdeführerin entweder über eine offene Stahlgittertreppe oder durch die orthopädische Gemeinschaftspraxis gehen. Beide Wege sind als Wege in die Physiotherapiepraxis ausgewiesen. Die Beschwerdeführerin nutzte häufiger den Weg durch die Gemeinschaftspraxis. Auf einer Notausgangstür im Wartezimmer befand sich ein Schild, auf dem „Physiotherapie“ stand.

Die Ärzte der Orthopädischen Gemeinschaftspraxis verboten der Beschwerdeführerin am 08.09.2014, mit ihrer Hündin die Praxis zu betreten. Stattdessen solle sie den Weg nehmen, der durch den Hof und über die Treppe führe. Ihr wurde der Durchgang verweigert, als sie an einem anderen Tag erneut durch die Praxisräume in die Physiotherapiepraxis gelangen wollte.

Inzwischen ist die Beschwerdeführerin auf einen Rollstuhl angewiesen.

Sie beantragte eine Verurteilung der Ärzte der Orthopädischen Gemeinschaftspraxis zu der Duldung des Zu- und Durchgangs der Beschwerdeführerin mitsamt ihrer Hündin. Hierbei gab sie an, dass die Benutzung der Stahlgittertreppe für sie nicht möglich wäre. Sie begründete dies damit, dass ihre Hündin vor der Treppe Angst habe, da sich die Krallen des Tieres bereits in der Stahlgittertreppe verfangen hätten und sie sich deshalb verletzt habe.

Die Klage wurde durch LG und KG abgewiesen. Das BVerfG hielt die Verfassungsbeschwerde für offensichtlich begründet und gab ihr statt. Es verwies die Sache daraufhin zur erneuten Entscheidung zurück an das KG.

Gründe

Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG sieht vor, dass niemand aufgrund seiner Behinderung benachteiligt werden darf. Nur beim Vorliegen zwingender Gründe darf ein Mensch mit Behinderung schlechtergestellt werden. Maßnahmen, durch die eine Situation für Behinderte aufgrund ihrer Behinderung verschlechtert werden, gelten als verbotene Benachteiligung.

Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG ist als Grundrecht und Wertentscheidung in Zusammenwirken mit speziellen Freiheitsrechten Grundlage dafür, dass den Staat in Zusammenhang mit behinderten Menschen eine besondere Verantwortung trifft.

Das Verbot der Benachteiligung hat Auswirkungen auf die Auslegung im Zivilrecht. Dies entspricht dem Willen des Verfassungsgebers.

Die UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) sieht in ihrem Art. 20 vor, dass das Recht auf persönliche Mobilität zu berücksichtigen ist, wenn zivilrechtliche Normen ausgelegt werden. Die einzelnen Vertragsstaaten müssen wirksame Maßnahmen treffen, um sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderung eine größtmögliche Unabhängigkeit garantiert ist. Dies wird u.a. durch den Zugang zu tierischer Hilfe erreicht.

Die Reichweite des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG und seine Bedeutung werden in der angegriffenen Entscheidung nicht erkannt. Die Auswirkungen des Zivilrechts werden nicht berücksichtigt. Durch die Ansicht des KG, dass die Beschwerdeführerin nicht unter den Schutzbereich von § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG falle, kam es mur zu einer Auslegung des zivilrechtlichen Benachteiligungsverbots unter den Grundrechten.

Es sei dahingestellt, ob auch eine unmittelbare Benachteiligung vorliegt, da zumindest eine mittelbare Benachteiligung vorliegt. Diese ist gegeben, wenn eine zunächst neutral erscheinende Vorschrift Personen u.a. wegen ihrer Behinderung gegenüber anderen Personen benachteiligt, ohne dass eine sachliche Rechtfertigung gegeben ist. Ein Verbot, das nach außen hin neutral formuliert erscheint, kann also benachteiligen. So verhält es sich bei dem Verbot, den Hund in die Praxis mit zu bringen. Die Beschwerdeführerin ist dadurch nicht in der Lage, die Praxisräume zu durchqueren. Dies ist aber jeder sehenden Person möglich.

Aus Sicht des KG wurde die Beschwerdeführerin nicht daran gehindert, selbst durch die Räume der Orthopädischen Praxis zu gehen. Lediglich das Verbot, die Hündin durch die Praxis laufen zu lassen, stelle eine Hinderung dar. Das KG stellt darauf ab, dass die Beschwerdeführerin andere Personen um Hilfe bitten soll, die nicht behindert sind. Darin würde eine Abhängigkeit der Beschwerdeführerin gegenüber den Nichtbehinderten geschaffen. Ein Vergleich mit anderen Behinderten wird nicht vorgenommen. Zudem wird außer Acht gelassen, dass es für die Beschwerdeführerin notwendig ist, sich in die Obhut eines Fremden zu begeben, ohne dass ihre Hündin dabei ist, und ohne dass die Beschwerdeführerin dies wünscht. Sie muss sich dabei von der ihr fremden Person führen, im Rollstuhl schieben oder anfassen lassen. Hierin bestünde eine Bevormundung der Beschwerdeführerin, da sie nicht mehr selbst über ihre persönliche Sphäre entscheiden könnte.

Eine Rechtfertigung der Benachteiligung ist sachlich nicht zu rechtfertigen.

Die „hygienische[n] Gründe“, die die Beschwerdegegner geltend machen, sorgen aus Sicht des KG für eine sachliche Rechtfertigung der Benachteiligung der Beschwerdeführerin. Ob diese Gründe bereits einen sachgerechten Grund für ein Durchgangsverbot begründen, ist zweifelhaft. Die Hündin würde lediglich den Wartebereich betreten, der auch von sämtlichen Patienten und anderen Personen betreten wird, die von Draußen hereinkommen und den Dreck der Straße in die Praxis bringen. Auch ein Rollstuhl könnte die Praxis verschmutzen. Die Hündin kann die hygienischen Verhältnisse also nicht nennenswert beeinträchtigen. Sämtliche Patienten können sehen, dass die Beschwerdeführerin auf die Hilfe der Hündin angewiesen ist und könnten sich damit auch möglicherweise unreinlichere Verhältnisse erklären.

Ein Durchgangsverbot ist weder erforderlich, um hygienische Verhältnisse in der Praxis sicher zu stellen, noch um die Infektionsgefahr, die von einem Tier ausgehen kann, vorzubeugen.

Die Berufsausübungsfreiheit der Ärzte und die allgemeine Handlungsfreiheit in der Ausprägung der Privatautonomie muss hinter den Rechten der Beschwerdeführerin gem. Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG zurücktreten, da die Beschwerdeführerin nicht in ihrem Recht auf Schutz vor Benachteiligung aufgrund ihrer Behinderung eingeschränkt werden darf. Die wirtschaftlichen Interessen der Ärzte wiegen die Nachteile für die Beschwerdeführerin nicht auf, da sie sonst kein selbstständiges und selbstbestimmtes Leben führen könnte, wie es ihr durch die Mitnahme einer Blindenhündin ermöglicht wird.

Bewertung

Die Untersagung der Ärzte einer Gemeinschaftspraxis gegenüber einer blinden Person, einen Blindenführhund bei einer Durchquerung der Praxis mitzuführen, die für sie notwendig war, stellt eine Gerichtsentscheidung, die die Untersagung bestätigt, einen Verstoß gegen das Recht der blinden Person aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG dar. Die einschlägigen Vorschriften des AGG wurden bei der Auslegung durch das Gericht missachtet. Insbesondere der Umfang des besonderen Gleichheitsrechts und die Auswirkungen, die es auf das bürgerliche Recht hat, fanden keine ausreichende Berücksichtigung.

Das Verbot, Hunde in die Praxis mitzubringen, scheint zunächst neutral formuliert. Darin steckt allerdings eine zumindest mittelbare Benachteiligung der blinden Person.

Dr. iur. Christoph Roos
Fachanwalt für Medizinrecht

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