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Arbeitsrecht/Sozialrecht: 30 % sind genug – Sanktionen gegen Hartz IV-Bezieher teilweise verfassungswidrig

Bundesverfassungsgericht vom 05.11.2019 – 1 BvL 7/16, Pressemitteilung Bundesverfassungsgericht Nr. 74/2019 vom 05.11.2019

Hintergrund

Der Kläger des Ausgangsverfahrens ist ausgebildeter Lagerist. Infolge seiner Arbeitslosigkeit vermittelte das Jobcenter dem Kläger eine neue Stelle in diesem Beruf. Der Kläger lehnte diese Stelle jedoch mit der Begründung ab, sich für den Verkaufsbereich und nicht für das Lager bewerben zu wollen. Infolge dieser Ablehnung kürzte das Jobcenter den Regelbedarf des Klägers um 30 %. Auch einen sogenannten Aktivierungs-und Vermittlungsgutschein für eine praktische Erprobung im Verkaufsbereich löste der Kläger danach nicht ein. Das Jobcenter reagierte und kürzte den Regelbedarf um weitere 30 Prozentpunkte, und damit insgesamt um 60 %. Der Widerspruch des Klägers vor dem Sozialgericht blieb erfolglos. Das Gericht setzte das Verfahren jedoch aus und legte dem Bundesverfassungsgericht im Wege der konkreten Normenkontrolle die Frage vor – verkürzt formuliert – ,ob die für die Kürzung maßgeblichen Regelungen ­– § 31a in Verbindung mit § 31 und § 31b SGB II – mit dem Grundgesetz vereinbar sind.

Zu den Regelungen kurz erörtert:

  • 31 Abs. 1 SGB II bestimmt, wann ein erwerbsfähiger Empfänger von Arbeitslosengeld II (Hartz IV) eine Pflichtverletzung begeht. Dies tut er insbesondere, wenn er sich ohne Vorliegen eines wichtigen Grundes und trotz Rechtsfolgenbelehrung weigert, eine zumutbare Arbeit anzunehmen oder er eine zumutbare Maßnahme zur Eingliederung in Arbeit nicht annimmt. § 31a SGB II bestimmt die Rechtsfolge einer solchen Pflichtverletzung, nämlich die Minderung des Hartz IV gestaffelt nach Stufen. Im Falle einer ersten Pflichtverletzung wird das Hartz IV um 30 % und bei Vorliegen einer weiteren Pflichtverletzung um 60 % gekürzt. Bei weiteren Pflichtverletzungen ist auch der vollständige Entfall der Leistung möglich. § 31b SGB II regelt wiederum, wie lange die Rechtsfolge – nämlich die Minderung des Hartz IV – andauert.

Diese Regelungen zugrunde gelegt, verletzte der Kläger zweimal seine Mitwirkungspflichten und konnte mit einer entsprechenden Kürzung um 60 % konfrontiert werden.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) stufte die Regelungen jedoch als teilweise verfassungswidrig ein, sodass es einer von der Entscheidung des Jobcenters abweichenden Entscheidung bedarf, hierzu aber folgend genauer.

Gründe

Der entscheidende erste Senat stellt klar, dass sich die zentralen Anforderungen für die Ausgestaltung der Grundsicherung aus der grundrechtlichen Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG ergeben. Das Gericht spricht dem Gesetzgeber jedoch einen Gestaltungsspielraum bei der konkreten Ausgestaltung der entsprechenden Regelungen zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums zu.

Aus dem Schutzauftrag des Staates aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG folge, dass der Staat die Voraussetzungen für ein eigenverantwortliches Leben zu schaffen hat. Gleichzeitig ist dem Gesetzgeber jedoch nicht vorenthalten, Leistungen zur Sicherung der menschenwürdigen Existenz an den sogenannten Nachranggrundsatz zu binden. Der Gesetzgeber kann dem folgend selbst die Entscheidung treffen, Leistungen zur Sicherung dieser Existenz nur dann zu gewähren, wenn Menschen hierzu nicht selbst in der Lage sind.

Dieser Nachranggrundsatz kann nach der Begründung des BVerfG nicht nur die Pflicht zum beispielsweise vorrangigen Einsatz eigenen Vermögens enthalten, er kann auch die Pflicht zur Mitwirkung an der Beseitigung des eine menschenwürdige Existenz gefährdenden Zustands enthalten. Eben diese Pflichten kann der Gesetzgeber auch „durchsetzbar“ ausgestalten. Er kann also Sanktionen für den Fall des Unterlassens von Mitwirkungshandlungen regeln. Durch diese Sanktionen in Gestalt einer Minderung der Leistung kann eine menschenwürdige Existenz bedroht sein. Jedoch kann eine solche Sanktionsregelung dennoch mit dem Grundgesetz und der darin enthaltenen grundrechtlichen Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (s.o.) vereinbar sein, wenn „diese Sanktion darauf ausgelegt ist, dass Mitwirkungspflichten erfüllt werden, die gerade dazu dienen, die existenzielle Bedürftigkeit zu vermeiden oder zu überwinden. Hierfür gelten strenge Anforderungen der Verhältnismäßigkeit.

Soweit so grundlegend ist aus verfassungsrechtlicher Sicht die Schaffung von Sanktionen nicht zu beanstanden. Auch die erste Stufe der Leistungsminderung von 30 % (§ 31a Abs. 1 S. 1 SGB II) sieht der entscheidende Senat aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht als problematisch an.

Jedoch erkennt das BVerfG die Vorgabe zur zwingenden Minderung des Hartz IV im Falle einer Pflichtverletzung (§ 31a Abs. 1 S. 1 SGB II) für unzumutbar. Der Gesetzgeber komme möglichen Härtefällen mit der Regelung nicht nach. Für ebenso unzumutbar erklärt das BVerfG den starren Verlauf der Sanktionen über drei Monate hinweg. Denn die Sanktion dürfe nur so lange gelten, wie tatsächlich auch eine Mitwirkungshandlung unterbleibt.

Die Kürzung der Mittel um 60 % erklärt das Bundesverfassungsgericht als mit dem Grundgesetz nicht vereinbar und damit für verfassungswidrig. „In der Gesamtabwägung der damit einhergehenden gravierenden Belastung mit den Zielen der Durchsetzung von Mitwirkungspflichten zur Integration in den Arbeitsmarkt ist die Regelung in der derzeitigen Ausgestaltung auf Grundlage der derzeitigen Erkenntnisse über die Eignung und Erforderlichkeit einer Leistungsminderung in dieser Höhe verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen“. Dem logisch folgend ist nach der Beurteilung des BVerfG erst recht auch das Unterlassen jedweder Leistung verfassungswidrig. Hierzu wirft das Gericht auch die Frage auf, ob durch eine solche Maßnahme überhaupt noch eine Mitwirkungsbereitschaft gewährleistet wird, also insbesondere der Zweck der Regelung erfüllt wird.

Das BVerfG urteilt, dass bis zur gesetzgeberischen Neufassung der Regelungen des SGB II eine Leistungsminderung zum einen nur bis zu einer Grenze von 30 % möglich ist und zugleich eine Härteprüfung vorzunehmen ist. Darüber hinaus gilt bis zu einer Neufassung nicht mehr die starre dreimonatige Frist, sondern nur bis zur Vornahme entsprechender Mitwirkungspflichten.

Bewertung

Dieses Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts krempelt die bisherige Sanktionspraxis der Jobcenter um und steckt klar die verfassungsrechtlichen Grenzen und Anforderungen hinsichtlich der Gewährleistung einer menschenwürdigen Existenz durch den Staat ab. Sie schränkt die Möglichkeiten ein, Pflichtverletzungen der Beteiligten respektive Leistungsempfängern beizukommen – das ist aber insoweit nicht erheblich, wenn die bestehende Praxis respektive die Regelungen, auf denen die Praxis beruht teilweise – so das Bundesverfassungsgericht – verfassungswidrig sind.

Klar von dem behandelten Fall und der Entscheidung abzuschichten sind jedoch zwei weitere wesentliche Aspekte, zu denen das Bundesverfassungsgericht aufgrund der Gestalt der Richtervorlage nicht geurteilt hat: Erstens können bei Menschen unter 25 Jahren die Leistungen bereits ab der ersten Pflichtverletzung gänzlich gestrichen werden. Zweitens – dies beschreibt insgesamt 77 % der Fälle, in denen Sanktionen verhängt werden – können die Jobcenter bei Meldepflichtverstößen die Leistungen um 10 % kürzen.

Arbeitsminister Hubertus Heil prüft aktuell laut Medienangaben, ob diese Praxis hinsichtlich des Leistungswegfalls bei Pflichtverstößen durch unter 25-Jährige im Lichte des Urteils des Bundesverfassungsgerichts per eigener Anordnung gegenüber den Jobcentern eingestellt werden können.

Darüber hinaus hat das Bundesverfassungsgericht die Tür zum öffentlichen Diskurs über die Fortsetzung einer Sanktionspraxis aufgestoßen. Es macht deutlich, dass es „in seinem [Ergänzung des Autors: in dem des Gesetzgebers] Entscheidungsspielraum“ liegt, „ob er weiterhin Leistungsminderungen zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten vorgeben und in unterschiedlicher Höhe ansetzen will“ (vgl. hierzu Rn. 224 der Entscheidung). Soweit DIE LINKE und Bund 90 Die Grünen nun fordern, dass gesamte Sanktionsregime zu kippen, werden sie damit wohl bei der CDU/CSU auf Granit beißen.

Es bleibt nun abzuwarten, in welcher Gestalt der Gesetzgeber dem nicht durch eine Frist terminierten Auftrag der Neuregelung nachkommen wird. Vielleicht ergibt sich hieraus alsbald eine neue Krise der Großen Koalition – soweit so politisch.

Konstantin Theodoridis
Fachanwalt für Sozialrecht

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