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Flugreiserecht: Weitergehende Schadensersatzansprüche sind regelmäßig auf Ausgleichszahlungen anzurechnen

Bundesgerichtshof vom 06.08.2019 – X ZR 128/18 und X ZR 165/18

Hintergrund

In beiden entschiedenen Fällen waren die Langstreckenhinflüge der Kläger zu ihren Urlaubszielen erheblich verspätet. Die jeweiligen Fluggesellschaften zahlten vorgerichtlich anstandslos die nach der VO (EU) 261/2004 fälligen Ausgleichszahlungen in Höhe von jeweils 600,00 EUR pro Person. Mit ihren Klagen verfolgten die Kläger weitergehenden Schadensersatz nach Art. 12 (1) der VO (EU) 261/2004, da sie bereits gebuchte Übernachtungen sowie Mietwagen trotz der Verspätung bezahlen mußten bzw. zusätzliche kostenpflichtige Übernachtungen anfielen.

Sowohl das Amtsgericht als auch das Landgericht Frankfurt a.M. als Berufungsgericht haben die Klagen abgewiesen, weil sie die geltend gemachten Schadensersatzansprüche auf die Ausgleichszahlungen angerechnet haben; der BGH hat diese Rechtsprechung nun letztinstanzlich bestätigt, eine Vorlage an den EuGH ist nicht vorgesehen.

Gründe

Die Richter der Vorinstanzen wiesen ausdrücklich auf den Grundsatz der Vorteilsausgleichung hin. Es bestünde ein Wahlrecht des Fluggastes hinsichtlich der beiden Entschädigungsarten. Würde der pauschalierte Ersatz für materielle und immaterielle Schäden nach der VO (EU) 261/2004 beansprucht, müsse dieser auf eine etwaige Schadenersatzforderung nach nationalem Recht angerechnet werden.

Der auf der VO (EU) 2302/2015 beruhende § 651p III 1 Nr. 1 BGB enthalte nunmehr eine ausdrückliche Bestimmung über die in den Streitfällen in Rede stehende Problematik. Danach muß sich ein Reisender auf seine Schadenersatzansprüche gegenüber dem Reiseveranstalter denjenigen Betrag anrechnen lassen, den er aufgrund desselben Ereignisses als Entschädigung nach Maßgabe der VO (EU) 261/2004 erhalten hat. Da diese Bestimmung allerdings nur für Reiseverträge gilt, die ab dem 01. Juli 2018 geschlossen wurden, konnten die Richter sie vorliegend nicht anwenden.

Ob die nach nationalem Recht begründeten Schadenersatzansprüche um die Ausgleichszahlung nach der VO (EU) 261/2004 gekürzt werden oder ggfls. gänzlich entfallen, richte sich laut BGH daher nach den von ihm entwickelten Grundsätzen der Vorteilsausgleichung, da eine gesetzliche Regelung nicht existiere. Demnach müssen den Geschädigten die Vorteile angerechnet werden, die ihnen in adäquatem Zusammenhang mit dem Schadensereignis zugeflossen sind und deren Anrechnung mit dem Zweck des Ersatzanspruchs übereinstimmt. Denn die Ausgleichszahlungen nach der VO (EU) 261/2004 dienen laut BGH nicht nur dem pauschalisierten Ersatz immaterieller Schäden, sondern auch der Erlangung des Ersatzes für materielle Schäden durch Fluggäste, ohne im einzelnen aufwendig deren Höhe darlegen und beweisen zu müssen. Da die vertraglichen Ersatzansprüche dem Ausgleich der selben  – durch die verspätete Luftbeförderung entstandenen –  Schäden dienen, wie die bereits erbrachten Ausgleichszahlungen, sei eine Anrechnung laut BGH geboten.

Bewertung

Die Entscheidung des BGH stellt einen Nachteil für eine große Zahl von Fluggästen dar und steht dadurch dem Zweck der VO (EU) 261/2004  – nämlich der Stärkung von Fluggastrechten und deren Schutz –  entgegen.

Der BGH benachteiligt mit seiner Entscheidung diejenigen Fluggäste, denen durch die Verspätung bzw. Annullierung weitere Kosten entstanden sind, gegenüber denjenigen, die lediglich verspätet sind. Während diese sich über eine Entschädigung für einen rein immateriellen Schaden freuen können, müssen jene die Ausgleichszahlung hernehmen, um ihre materiellen Schäden auszugleichen.

Der BGH hatte 2013 in einem früheren Verfahren (X ZR 111/12) dem EuGH die Frage vorgelegt, ob die Ausgleichszahlung lediglich als Ausgleich für immaterielle Schäden anzusehen sei, eine Anrechnung daher im Falle von weitergehenden materiellen Schäden nicht zwangsläufig erfolgen müsse. Die Rechtsfrage konnte leider vom EuGH nicht entschieden werden, da die beklagte Fluggesellschaft den Anspruch in letzter Minute aus prozeßtaktischen Gründen anerkannte und so der Rechtsfrage die Grundlage entzogen wurde.

Seine Entscheidung begründet der BGH nun hauptsächlich mit Verweis auf § 651p III 1 Nr. 3 BGB, der allerdings nur für Pauschalreisen gilt, nicht aber für Individualreisen. Es hätte gute Gründe gegeben, zwischen beiden Reiseformen zu unterscheiden und die Rechtsfrage erneut dem EuGH vorzulegen. Der Pauschalreisende kann sich nämlich im Normalfall zurücklehnen und seinen Reiseveranstalter die nicht geplante Situation regeln lassen; der Individualtourist muß dagegen alle Unregelmäßigkeiten selbst verantworten und bei Umplanungen auch frisches Geld in die Hand nehmen. So ist er in der Regel doppelt gelackmeiert, da er mehr Arbeit hat und auch noch seinen immateriellen Schadensersatz durch seine weiteren Kosten geschmälert sieht.

Lediglich aus Gründen der Rechtssicherheit und der Vereinfachung bei der Abwicklung von Flugreiseschäden ist dem BGH zu danken, da jetzt geklärt ist, daß einfach immer angerechnet werden muß.

Matthias Gollor
Rechtsanwalt

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