Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 16.05.2019 – 6 AZR 329/18, Pressemitteilung Bundesarbeitsgericht Nr. 21/19
Hintergrund
Der Kläger war über viele Jahre bei der insolventen Arbeitgeberin (Beklagten) beschäftigt. Er ist schwerbehindert. Das Arbeitsverhältnis unterfiel einem tariflichen Sonderkündigungsschutz. Die Beklagte kündigte jedoch das Arbeitsverhältnis betriebsbedingt. Dies geschah im Rahmen eines Insolvenzverfahrens. Zuvor hatte die Beklagte mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich mit Namensliste im Sinne von § 125 Abs. 1 InsO geschlossen. Nach dieser Liste musste der Arbeitsplatz des Klägers nicht mehr besetzt werden. Vorgesehen war eine Umverteilung der Aufgaben der durch den Kläger besetzten Stelle. Andere als die von dem Kläger bis zu diesem Zeitpunkt ausgeführten Tätigkeiten kann der Kläger nicht ausführen. Er hält die Kündigung für unwirksam. Er beruft sich auf das oben bezeichnete tarifliche Sonderkündigungsrecht, und den Beschäftigungsanspruch aus § 81 Abs. 4 SGB IX aF (Pflichten des Arbeitgebers und Rechte schwerbehinderter Menschen).
Das Kündigungsschutzverfahren des Klägers hatte vor dem Arbeitsgericht und dem Landesarbeitsgericht keinen Erfolg. Auch das durch den Kläger angestrengte Revisionsverfahren vor dem Bundesarbeitsgericht (BAG) hat keinen Erfolg.
Gründe
Nach Auffassung des BAG hat die Kündigung der Beklagten das Arbeitsverhältnis beendet. Sie ist nicht unwirksam. Der vom Kläger ins Feld geführte tarifliche Sonderkündigungsschutz habe gemäß § 113 S. 1 InsO keine Wirkung. Hiernach kann ein „Dienstverhältnis, bei dem der Schuldner der Dienstberechtigte ist, […] vom Insolvenzverwalter und vom anderen Teil ohne Rücksicht auf eine vereinbarte Vertragsdauer oder einen vereinbarten Ausschluß des Rechts zur ordentlichen Kündigung gekündigt werden“. Weiter sei die Beklagte nicht dazu verpflichtet gewesen, einen Arbeitsplatz zu schaffen oder zu erhalten, der nach dem Organisationskonzept nicht mehr erforderlich ist. Hieraus folgt, dass der durch den Kläger angebrachte § 81 Abs. 4 SGB IX aF nicht greift.
Bewertung
Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG regelt:
„Um die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auf Menschen mit Behinderung zu gewährleisten, sind angemessene Vorkehrungen zu treffen. Das bedeutet, dass der Arbeitgeber die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen ergreift, um den Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufes, den beruflichen Aufstieg und die Teilnahme an Aus-und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermöglichen, es sei denn, diese Maßnahmen würden den Arbeitgeber unverhältnismäßig belasten. Diese Belastung ist nicht unverhältnismäßig, wenn sie durch geltende Maßnahmen im Rahmen der Behindertenpolitik des Mitgliedstaates ausreichend kompensiert wird.“
Diese Richtlinie hat der deutsche Gesetzgeber durch § 164 Abs. 5 SGB IX (vormals bis zum 31.12.2017, wie im Verfahren angeführt, § 81 Abs. 4 S. 1 SGB IX) umgesetzt. Hiernach haben Schwerbehinderte einen besonderen Beschäftigungsanspruch. Jedoch ist es nicht Sinn und Zweck dieses besonderen Beschäftigungsanspruchs, den schwerbehinderten Arbeitnehmer vor dem Verlust seines Arbeitsplatzes zu schützen, sondern vielmehr (vgl. dazu die oben bezeichnete Richtlinie) den Zugang zu einer Beschäftigung angepasst an die individuellen Einschränkungen wegen der Schwerbehinderung zu ermöglichen. Um einen solchen Zugang gewährleisten zu können, muss zuerst aber überhaupt eine Beschäftigungsmöglichkeit bestehen. Der in Satz 1 der Richtlinie bezeichnete Gleichbehandlungsgrundsatz kann insoweit nicht durchgreifen, wenn schon keine Beschäftigungsmöglichkeit besteht, so in dem durch das BAG zu beurteilenden Sachverhalt. Aufgrund der unternehmerischen Entscheidung, den Arbeitsplatz des Klägers nicht aufrecht zu erhalten, fiel die Beschäftigungsmöglichkeit weg, sodass der Gleichbehandlungsgrundsatz nicht durchgreift. Denn aus § 164 Abs. 4 S. 1 SGB IX leitet sich kein Anspruch auf die Einrichtung eines Arbeitsplatzes für einen schwerbehinderten Menschen her (vgl. dazu auch die vorhergehende Entscheidung zur alten Norm: BAG, Urteil vom 28.04.1998; Az.: 9 AZR 348/97 und BAG, Urteil vom 10.05.2005; Az. 9 AZR 230/04).
Insoweit greift der Gleichbehandlungsgrundsatz dann, wenn ein weiterer freier Arbeitsplatz im Unternehmen besteht, also bei einer Weiterbeschäftigungsmöglichkeit, so jedoch nicht in dem der Entscheidung des BAG zugrunde liegenden Sachverhalt.
Die Entscheidung des BAG beachtet die unternehmerische Organisationsfreiheit in ausreichender Weise und leitet zu Recht nicht einen Weiterbeschäftigungsanspruch her. Das BAG folgt damit seiner bisherigen Rechtsprechung. Arbeitgebern obliegt es, im Falle betriebsbedingter Kündigungen zu prüfen, ob andere Arbeitsplätze zur Verfügung stehen, die durch einen schwerbehinderten Menschen besetzt werden können, um so den gesetzlichen Anforderungen gerecht zu werden.