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Medizinrecht: Häufigkeitsdefinitionen im Aufklärungsgespräch

Bundesgerichtshof, Urteil vom 29.01.2019 – Az. VI ZR 117/18

Hintergrund

Der Kläger, der an einer Arthrose im rechten Kniegelenk litt und deshalb ein künstliches Kniegelenk eingesetzt bekommen hatte, verlangte von dem Krankenhaus, in dem er operiert worden war, der Beklagten, Schadensersatz wegen angeblicher Behandlungs- und Aufklärungsfehlern in Höhe von 50.000,00 Euro. Zudem wollte er abstrakt festgestellt wissen, dass die Beklagte ihm zum Ersatz aller Folgeschäden verpflichtet ist.

Vor der Operation am 24. November 2011 war der Kläger unter Verwendung eines Aufklärungsbogens mündlich über die möglichen Komplikationen informiert worden. In dem Aufklärungsbogen wird unter anderem ausgeführt:

Können Komplikationen auftreten?
Trotz größter Sorgfalt kann es während oder nach dem Eingriff zu Komplikationen     kommen, die u.U. eine sofortige Behandlung erfordern (…). Zu nennen sind:

  • (…)
  • (…)
  • im Laufe der Zeit gelegentlich Lockerung oder extrem selten Bruch der Prothese; ein Austausch der Prothese ist dann erforderlich.(…).
  • (…).“

Etwa zwei Jahre nach dem Eingriff stellte sich der Kläger erneut in der Sprechstunde der Beklagten, aufgrund eines zunehmenden Belastungsschmerzes am operierten Kniegelenk, vor. Die Folgeuntersuchung ergab, dass sich die eingebrachte Prothese gelockerte hatte, sodass ein neues Implantat eingesetzt werden musste.

Unter anderem mit der Behauptung, im Rahmen der Operation falsch behandelt und vor der Operation unzutreffend aufgeklärt worden zu sein, stützt der Kläger seinen Schadensersatzanspruch. Die Angaben in dem Aufklärungsbogen entsprächen nicht den Häufigkeits-Definitionen, wie sie den Arznei-Beipackzetteln zu entnehmen sind. Denn nach den Kriterien des MedDRA (Medical Dictionary for Regulatory Activities) meint „gelegentlich“ eine Häufigkeit von 0,1 bis 1 Prozent, also das Auftreten bei einem bis zu zehn von 1.000 Behandelten. Das tatsächliche Risiko einer solchen Lockerung liegt jedoch bei etwas mehr als acht von 100 Behandelten (8,71 %). Diese Häufigkeit ist nach dem MedDRA als „häufig“ einzuordnen. Die behandelnden Ärzte hätten sich somit nicht an die Beipackzettel-Definition gehalten und das Risiko einer Lockerung der Prothese von Seiten der Beklagten verharmlost worden.

Die Klage wurde in allen drei Instanzen abgewiesen. Der Bundesgerichtshof (BGH) klärt damit einen Streit zwischen verschiedenen Oberlandesgerichten.

Gründe

Der VI. Zivilsenat des BGH führt aus, dass ärztliche Heileingriffe grundsätzlich der Einwilligung des Patienten bedürfen, um rechtmäßig zu sein. Die wirksame Einwilligung des Patienten setzt dabei dessen ordnungsgemäße Aufklärung voraus. Dafür reicht es aus, den Patienten „im Großen und Ganzen“ über Chancen und Risiken der Behandlung aufzuklären und ihm dadurch eine allgemeine Vorstellung von dem Ausmaß der mit dem Eingriff verbundenen Gefahren zu vermitteln, ohne diese beschönigen oder zu verschlimmern.

Der Senat stellt in diesem Rahmen auf den allgemeinen Sprachgebrauch ab. Das Wort „gelegentlich“ hat nach allgemeinem Sprachverständnis die Bedeutung von „nicht Regelmäßig“. „gelegentlich“ bezeichnet mithin in dieser Wortbedeutung eine gewissen Häufigkeit, die größer als „selten“, aber kleiner als „häufig“ ist. Eine konkrete Häufigkeitszahl ist dem Begriff im allgemeinen Sprachgebrauch nicht zugeordnet.

Die Definitionen des MedDRA sind nach Auffassung des Senats keineswegs prägend für den üblichen Sprachgebrauch. Dabei handelt es sich lediglich um eine Sammlung standardisierter medizinischer Begriffe, die von dem International Council for harmonisation of Technical Requirements for Pharmaceuticals for Human Use (ICH) entwickelt wurden, um den internationalen Austausch von Informationen im Zusammenhang mit der Zulassung von Medizinprodukten zu erleichtern.

Bewertung

Diese Entscheidung ist im Sinne der Rechtsklarheit und Rechtseinheitlichkeit zu begrüßen. So sind die Angaben im Beipackzetteln weit vom allgemeinen Sprachgebrauch entfernt und nicht geeignet dem Patienten die Häufigkeiten der Komplikationen verständlich darzulegen. Dementsprechend könnte der Patient, selbst bei Risikoangaben im Sinne der Angaben auf Medikamentenbeipackzetteln durch den Arzt, diese nicht richtig einordnen und somit das Risiko nicht passend einschätzen.

Gegen die Übertragbarkeit von Häufigkeitsdefinitionen in Medikamentenbeipackzetteln auf medizinische Behandlungen spricht auch, dass die Häufigkeitsangaben von Medikamenten-Nebenwirkungen auf streng kontrollierten randomisierten  Studien  unter standardisierten Bedingungen beruhen. Die gewonnenen statistischen Daten sind Voraussetzung für die Zulassung eines Medikaments. Für operative, aber auch sonstige medizinische Behandlungen und weitere invasive Maßnahmen existieren kaum vergleichbare Möglichkeiten der Standardisierung oder Klassifizierung. Es mangelt somit an der notwendigen Vergleichbarkeit.

Unter diesen Gesichtspunkten ist festzuhalten, dass nach wie vor das persönliche Aufklärungsgespräch zwischen Arzt und Patient ausschlaggebend für eine ordnungsgemäße Aufklärung ist und im Rahmen dieses Gespräches der allgemeine Sprachgebrauch und das Verständnis des Patienten entscheidend ist.

Christiane Wolf
Rechtsanwältin

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