Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 21.12.2017 – 2 BvR 2772/17

Hintergrund

Der 96-jährige Beschwerdeführer wurde durch das Landgericht Lüneburg (LG) mit Urteil vom 15. Juli 2015, rechtskräftig seit dem 21. September 2016, wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 rechtlich zusammentreffenden Fällen zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt.

Der Beschwerdeführer war als Mitglied der SS im Konzentrationslager Auschwitz ab dem 45 September 1942 tätig. An der Rampe war der Beschwerdeführer mit der Aufgabe versehen, das Gepäck der aus den Zügen aus steigenden Deportierten zu bewachen und Diebstähle zu verhindern. Zudem war er mit der Verbuchung und Verwahrung des den Deportierten entwendeten Geldes betraut.

Dieser Handlung des Klägers war Grundlage für das landgerichtliche Urteil.

Der Beschwerdeführer beantragte Aufschub der Strafvollstreckung nach § 455 Abs. 3 StPO (Aufschub wegen erheblicher gesundheitlicher Einschränkungen) und legte zum Nachweis einen Attest seines Hausarztes vor, der ihm Haftuntauglichkeit attestierte. Auf Grundlage einer amtsärztlichen Stellungnahme und eines psychiatrischen Gutachtens lehnte die Staatsanwaltschaft den Antrag ab. Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 458 Abs. 2 StPO wurde durch das LG abgelehnt. Die gegen die Entscheidung des LG eingereichte Beschwerde vor dem Oberlandesgericht (OLG) blieb ohne Erfolg.

Sodann erhob der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde und machte die Verletzung des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gelten.

Der Beschwerdeführer führte an, dass die Untersuchungen der eingestellten Gutachter unzureichend waren und aufgrund dessen die gerichtlichen Entscheidungen unverhältnismäßig sind. Er trug zudem vor, jede Wertschätzung durch eine Inhaftierung seitens Dritter zu verlieren. Die Inhaftierung stelle zudem eine erhebliche Beeinträchtigung für die Gesundheit dar, die das hohe Risiko einer Lebensverkürzung in sich berge.

Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe

Das Gericht führte aus, dass die Annahmegründe nach § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen. Die Verfassungsbeschwerde sei unbegründet, da die angegriffenen Entscheidungen den Beschwerdeführer nicht in seinen Grundrechten verletzen.

Das Bundesverfassungsgericht machte in seinem Urteil deutlich, dass es Pflicht des Staates sei die Sicherheit der Bürger und deren Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit der staatlichen Institutionen zu schützen. Notwendig hierfür sei die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs. Die Grenzen dieser erforderlichen Durchsetzung finden sich im Grundrecht des Verurteilten auf Leben und körperliche Unversehrtheit, Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG. Dieses Spannungsverhältnis zwischen der Erforderlichkeit der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs auf der einen Seite, und den Grundrechten des Verurteilten auf der andern Seite ist nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu beurteilen und im Ergebnis aufzulösen. Die Grenze aus Sicht des Verurteilten sei dann erreicht, wenn die Durchsetzung der Strafvollstreckung zur Beendigung des Lebens oder zu einem schwerwiegenden Schaden der Gesundheit führen würde. Des Weiteren sind die Strafvollstreckungsbehörden auf Grundlage von Art. 1 Abs. 1 GG zur Achtung und zum Schutz der Würde des Menschen gehalten. „Der Strafvollzug steht unter dem Gebot, schädlichen Auswirkungen für die körperliche und geistige Verfassung des Gefangenen im Rahmen seiner Möglichkeiten entgegenzuwirken und die Gefangenen lebenstüchtig zu halten“. Ebenso seien „Fallgestaltungen, die den Verurteilten von vornherein zum Versterben in der Haft verurteilen oder seine Chance, der Freiheit teilhaftig zu werden, auf einen von Siechtum und Todesnähe gekennzeichneten Lebensrest reduzieren, [sind] dem Strafvollzug unter der Herrschaft des Grundgesetzes grundsätzlich fremd“. Die vom Beschwerdeführer angeführte Norm des § 455 StPO trägt dem Ausgleich des Spannungsverhältnisses und der Auflösung des Spannungsverhältnisses hinreichend Rechnung. Jedoch findet die Norm dann ihre Grenzen, wenn im Falle einer Inhaftierung hinreichende Möglichkeiten der Vorsorge bestehen, die die körperliche Integrität des Inhaftierten gewährleisten. Zudem bestehe die Freiheit sichernde Funktion des Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz in der unverzichtbaren Voraussetzungen, dass gerichtliche Entscheidungen die im Ergebnis den Entzug der persönlichen Freiheit zur Folge haben, auf ausreichender richterlicher Sachaufklärung beruhen.

Das Bundesverfassungsgericht kam auf Grundlage dieser erörterten und bestehenden Maßstäbe zu dem Ergebnis, dass die getroffenen Entscheidungen in keinem Widerspruch hierzu stehen.

Nach Beurteilung der entscheidenden Kammer tragen die getroffenen ärztlichen Begutachtungen einer Entscheidungsgrundlage Rechnung. Eine unzureichende Sachaufklärung habe es nicht gegeben. Zudem könne, wie durch alle Sachverständigen in gleicher Weise bewertet wurde, durch hinreichende Versorgung einem besonderen Betreuungsbedarf des Beschwerdeführers Rechnung getragen werden.

Die angegriffenen Entscheidungen können nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts keinen Widerspruch zu erforderlichen Abwägung des öffentlichen Interesses an der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs und den Grundrechten des Verurteilten erkennen lassen.

Bewertung

Das Bundesverfassungsgericht stellt in seinem Urteil erneut die geltenden Maßstäbe für die Bewertung und Erforderlichkeit der Vorname der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs klar. Auf der einen Seite steht die Sicherheit und das Vertrauen der Bürger in die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege, auf der anderen Seite stehen die grundrechtlich geschützten Positionen der Verurteilten, hier des Beschwerdeführers. Diese sind in einen schonenden Ausgleich zu bringen. Dies ist zunächst Aufgabe der Strafgerichte. Insoweit haben die Gerichte die geltenden, insbesondere verfassungsrechtlichen Positionen, nicht außer Acht gelassen und ein aus verfassungsrechtlicher Sicht verhältnismäßiges Urteil gefällt.