Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 18.12.2017 – 2 BvR 2259/17

Hintergrund

Der Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöriger. Er wurde am 20. April 1987 in Deutschland, Rüsselsheim, geboren. Nach Kindheit und Jugend heiratete er im Februar 2008 eine türkische Staatsangehörige. Das Paar hat zwei Kinder.

Seit 2011 wandte sich der Beschwerdeführer dem muslimischen Glauben auf und nahm Kontakt zu salafistischen Kreisen auf. Im Sommer 2013 reiste der Beschwerdeführer mehrfach, auch mit seiner Familie, in die Türkei und von dort nach Syrien. Dort lebte er in dem von der terroristischen Terrorvereinigung Junud al-Sham beherrschten Dorf und ließ der Organisation Geld-und Sachleistungen zukommen. Durch die Vorspiegelung falscher Tatsachen schloss der Beschwerdeführer einen Darlehensvertrag mit einer Bank ab. Die 25.000 EUR, die ihm aufgrund des Darlehensvertrages zur Verfügung standen, überwies der Beschwerdeführer über Mittelsmänner auf ein Konto des islamischen Staates. Der Beschwerdeführer wurde in Haft genommen und mit Urteil vom 6. Juli 2015 unter anderem wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt.

Mit Bescheid vom 3. Juni 2016 wurde der Beschwerdeführer durch die Ausländerbehörde aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen.

Das Eilverfahren und das Klageverfahren vor dem Verwaltungsgericht blieben mit Beschluss vom ohne Erfolg. Hier trug der Beschwerdeführer vor, bei Rückkehr in Türkei der Folter oder einer anderen menschenrechtswidrigen Behandlung ausgesetzt zu sein. Das Gericht lehnte den Vortrag wegen mangelnder Substantiierung ab.

Die Beschwerde gegen die Klageentscheidung vor dem Verwaltungsgerichtshof blieb ohne Erfolg. Der Verwaltungsgerichtshof lehnte die Beschwerde unter Abwägung der durch den Beschwerdeführer vorgetragenen Erwägungen mit Beschluss vom 31. August 2017 ab.

Der Kläger hatte unterdessen am 15. August 2017 einen Asylantrag gestellt.

Dieser wurde am 23. August 2017 als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes blieb mit Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 21. September 2017 erfolglos. In diesem Verfahren legte der Beschwerdeführer Nachweise über die Situation in der Türkei von amnesty international vor.

Gegen den Beschluss erhob der Beschwerdeführer erfolglos am 3. Oktober die Anhörungsrüge.

Sodann erhob der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde und beantragte den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Das Bundesverfassungsgericht gab dem Antrag des Klägers statt und untersagte damit der Ausländerbehörde die Abschiebung des Klägers bis zur Entscheidung der Verfassungsbeschwerde, längstens bis zum 30. November 2017.

Gründe

Der Kläger hatte geltend gemacht, in seinen Grundrechten aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, Art. 16a Abs. 1, Art. 19 Abs. 4, Art. 3 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1, 2, Art. 101 Abs. 1 S. 2 und Art. 103 Abs. 1 GG verletzt zu sein. „Sowohl im ausweisungsrechtlichen als auch im asylrechtlichen Eilverfahren hätten die Gerichte einen unzutreffenden Prognosemaßstab, jenen der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, der nur im Hauptsacheverfahren Anwendung finde, für die dem Beschwerdeführer drohenden Gefahren angenommen“. Weiter sei nicht berücksichtigt worden, dass in der Türkei wegen eines offensichtlich manipulierten Strafvorwurfs ermittelt werde. Hierdurch sei eine politische Verfolgung im Sinne des Art. 16a GG indiziert. Zu Unrecht sei § 3 Abs. 2 AsylG durch das Verwaltungsgericht auf das Asylgrundrecht erstreckt worden, obschon nicht der Vorwurf eigener terroristischer Aktivitäten besteht. Im Hinblick auf eine Verletzung aus Art. 19 Abs. 4 sei die Begründung für die Ablehnung des Asylantrags nicht hinreichend begründet worden. Die strafrechtliche Verurteilung habe zudem ausschließlich Indizcharakter. In der Gleichsetzung der Frage der Asylgewährung und der Frage nach dem Flüchtlingsschutz liege zudem ein Verstoß gegen das Willkürverbot. Das Recht auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG sei durch die Nichtbeachtung des Schreibens von amnesty international  verletzt worden. Im Übrigen habe das Verwaltungsgericht die Einholung von Informationen beim Auswertigen Amt unterlassen. Durch die unanfechtbare Eilantragsabweisung sei Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG verletzt, da kein Rechtsweg zum Europäischen Gerichtshof mehr offen stehe.

Das Bundesverfassungsgericht urteilte, dass der Beschwerdeführer durch die Entscheidung des Verwaltungsgerichts vom 21. September 2017 in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verletzt ist, „indem sie ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheids des Bundesamts auch bezüglich der geltend gemachten Abschiebungsverbote aus § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ohne weitere Sachaufklärung verneint“.

Die entscheidende Kammer führte aus, dass Gerichte den betroffenen Rechten auch tatsächliche Wirksamkeit verschaffen müssen. Den Grad eines wirkungsvollen Rechtsschutzes bestimmt sich im Wesentlichen nach Maßgabe des betroffenen Rechts. Dieser Grad ist nach Ausführung der entscheidenden Kammer aufgrund der drohenden Gefahr für die körperliche Unversehrtheit des Beschwerdeführers erheblich. Dem müsse insbesondere im Hinblick auf die Europäische Menschenrechtskonvention Rechnung getragen werden.

Der Vortrag des Beschwerdeführers hinsichtlich der Foltergefahr war in den Verfahren des Klägers nicht entscheidungserheblich.

Sowohl verfassungsrechtlich als auch konventionsrechtlich ist es in solchen Konstellationen (der Gefahr einer Folter (Hinweis des Verfassers)) geboten, dass sich die zuständigen Behörden und Gerichte vor einer Rückführung in den Zielstaat über die dortigen Verhältnisse informieren und gegebenenfalls Zusicherungen der zuständigen Behörden einholen“. Hierbei ist auf die Geeignetheit der eingeholten Information im Hinblick auf die Prüfung der Sachlage zu achten.

Diesen Anforderungen wurde die durch den Beschwerdeführer angegriffene Entscheidung vom 21. September 2017 nach Auffassung der entscheidenden Kammer nicht gerecht.

Das Verwaltungsgericht hatte das Beweismittel von amnesty international und die nach Befinden der entscheidenden Kammer als gerichtsbekannt einzustufenden allgemeinen Erkenntnisse zur politischen Situation in der Türkei nicht berücksichtigt. Diese Beweismittel hätten durch das entscheidende Verwaltungsgericht beurteilt werden müssen. Dies gilt auch für den Vortrag des Klägers im Hinblick auf die Haftbedingungen in der Türkei.

Im Übrigen nahm das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers nicht zur Entscheidung an.

Bewertung

Das Bundesverfassungsgericht stellt in seinem Beschluss die Anforderungen an eine hinreichende Sachverhaltsaufklärung durch Gerichte in den Fokus. Ein Abweichen von diesen Grundsätzen, hier insbesondere auch im Hinblick auf die Europäische Menschenrechtskonvention, führt zur Verletzung der Rechte des Beschwerdeführers. Nun ist abzuwarten, wie das Verwaltungsgericht die einzubeziehenden Beweismittel in einer Entscheidung berücksichtigt.