Bundesgerichthof, Beschluss vom 6. Juli 2016 – XII ZB 61/16

Hintergrund

Die Betroffene erlitt Ende November 2011 einen Hirnschlag. Im Krankenhaus wurde ihr darauf eine PEG- Sonde gelegt. Hierüber erfolgte die Verabreichung von Medikamenten und künstliche Ernährung. Im Januar 2012 wurde die Betroffene in ein Pflegeheim aufgenommen. Nach mehreren epileptischen Anfällen verlor die Betroffene im Frühjahr 2013 das Sprachvermögen.
Die Betroffene war mit ihrem Ehemann bis zu dessen Tod im Februar 2013 verheiratet. Beide Ehepartner hatten sich gegenseitig mit notarieller Urkunde vom 26. Februar 2003 zu Generalbevollmächtigten zur Vertretung in Fragen der medizinischen Versorgung und Behandlung, im Sinne von § 1904 BGB, eingesetzt. Als Ersatzbevollmächtigte hatten die Ehepartner an erster Stelle eine ihrer drei Töchter, die Bevollmächtigte, eingesetzt. An zweiter Stelle setzten sie eine zweite der drei gemeinsamen Töchter, Beteiligte zu 1, ein.
Zuvor, am 10. Februar 2003, hatte die Betroffene eine schriftliche „Patientenverfügung“ unterzeichnet. Als Vertrauensperson hatte sie die auch als Ersatzbevollmächtigte durch sie und ihren Ehemann eingesetzte Tochter, Bevollmächtigte, mit einer Vollmacht ausgestattet. Diese Vollmacht hatte sie am 18. November 2011 wortlautidentisch erneuert.

Die Bevollmächtigte und die behandelnde Hausärztin der Betroffenen waren der Auffassung, dass ein Abbruch der künstlichen Ernährung nicht dem in der Patientenverfügung geäußerten Willen entspricht. Die beiden anderen Töchter, Beteiligte zu 1 und 3, teilten diese Auffassung nicht.

Die Beteiligte zu 1 stellte im März 2015 beim Betreuungsgericht Anträge „auf Umsetzung der Patientenverfügung und auf Befolgung des Patientenwillens“ sowie „auf Entzug des Betreuungsrechtes“ der Bevollmächtigten. Die Beteiligte zu 3 schloss sich an.
Das zuständige Amtsgericht hat den Antrag auf Anordnung einer Kontrollbetreuung ausgelegt und diesen zurückgewiesen. Die Beschwerde der Beteiligten zu 1 vor dem Landgericht führte zur Aufhebung des amtsgerichtlichen Beschlusses. Zudem wurde die Beteiligte zu 1 „zur Betreuerin mit dem Aufgabenkreis des Widerrufs der von der Betroffenen erteilten Vollmachten, allerdings nur für den Bereich der Gesundheitsfürsorge“ ernannt.

Hiergegen wendete sich die Bevollmächtigte mit Rechtsbeschwerde an den Bundesgerichtshof, und begehrte die Wiederherstellung der amtsgerichtlichen Entscheidung.

Die Rechtsbeschwerde vor dem Bundesgerichtshof führte zur Aufhebung der landgerichtlichen Entscheidung und zur Zurückweisung der Sache zur neuen Behandlung und Entscheidung an das Landgericht, auch zur Entscheidung über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens.

Gründe

Das Landgericht hatte geurteilt, dass durch eine angemessene palliativmedizinische Versorgung unnötigem Leid im Rahmen des Sterbeprozesses wirksam begegnet werden könne. Diese Beurteilung knüpfe an die Willensäußerung der Betroffenen an, dass lebensverlängernde Maßnahmen unterbleiben sollen, sofern ein unwiederbringlicher Dauerschaden vorliege. Zur Frage der Anordnung einer Betreuung, die die Beteiligten zu 1 und zu 3 forderten, urteilte das Landgericht, dass die materiellen Voraussetzungen vorliegen.

Diese Bewertung hielt der rechtlichen Nachprüfung durch den Bundesgerichtshof nicht stand.

Die materiellen Voraussetzungen für die Anordnung einer Kontrollbetreuung sah der Bundesgerichtshof für nicht erfüllt an.

Nicht zu beanstanden war nach Auffassung des Bundesgerichtshofes, dass die Beteiligte zu 2 Bevollmächtigte der Betroffenen war und sich dies auf den gesamten Bereich der Gesundheitsfürsorge, insbesondere auch für Fragen im Zusammenhang mit Fortführung oder Abbruch künstlicher Ernährung erstreckt.
Ebenfalls als richtig erkannte der Bundesgerichtshof an, dass ein Betreuer zur Geltendmachung von Rechten der Betroffenen gegenüber den Bevollmächtigten bestellt und unter bestimmten Voraussetzungen auch zum Widerruf der Vollmacht ermächtigt werden kann.
Wie bereits ausgeführt, sah der BGH Voraussetzungen für eine Kontrollbetreuung als nicht gegeben an. Es lägen allerdings keine Anzeichen für eine Überforderungen oder einen Fehlgebrauch der Vollmacht durch die Bevollmächtigte vor.
Es bestehe die Möglichkeit, dass sich die Rechtfertigung eines Widerrufs einer Vollmacht auch aus einer Entscheidung der Bevollmächtigten zu einer Durchführung von lebensverlängernden Maßnahmen ergeben kann. Erforderlich sei, dass sich die Bevollmächtigte offenkundig über den Willen der Betroffenen, bzw. den in der Patientenverfügung niedergelegten Willen, hinwegsetze.

Die streitgegenständliche Ausführung in der Patientenverfügung, „keine lebenserhaltenden Maßnahmen“, stellt für sich genommen nach Auffassung des BGH keine hinreichend konkrete Behandlungsentscheidung dar. Eine Konkretisierung dieser Aussage kann sich durch die Nennung bestimmter ärztlicher Maßnahmen oder Bezugnahme auf ausreichend spezifizierte Krankheiten oder Behandlungssituationen ergeben.
An derartigen Präzisierungen fehlte es in der Patientenverfügung.
Demnach fehlte es an offenkundigen Pflichtverstößen der Bevollmächtigten gegenüber der Willensäußerung der Betroffenen. Insbesondere sei die Bevollmächtigte der behandelnden Ärztin zur Erörterung der medizinischen Maßnahmen gegenübergetreten.
Die Bevollmächtigte hatte insoweit im Einvernehmen mit der behandelnden Ärztin einen mutmaßlichen Willen zur Beendigung der künstlichen Ernährung nicht feststellen können.
Der BGH urteilte, dass alle Äußerungen eines Betroffenen, die Festlegungen für eine konkrete Lebens-und Behandlungssituation enthalten, und nicht unbedingt den Anforderungen einer Patientenverfügung genügen, in eine Beurteilung des wirklichen Behandlungswunsches des Patienten mit einfließen können. Insbesondere seien diese konsequenterweise zeitnah geäußert worden, oder besitzen aktuellen Bezug zur Behandlungssituation. An diese Behandlungswünsche besteht Bindung der Bevollmächtigten. Das Maß der Bestimmtheit ist dem Maß der Patientenverfügung gleich. Eine Beurteilung einer solchen Bestimmtheit kann nur im Einzelfall erfolgen.

In der Sache war eine solche Feststellung nicht möglich. Jedoch kann aufgrund der Tatsache, dass die Betroffene zur Zeiten der Kommunikationsfähigkeit einer künstlichen Ernährung mittels PEG- Sonde nicht widersprach, entnommen werden, dass ein Abbruch einer solchen Maßnahme nicht im Sinne der Betroffenen ist.
Die Patientenverfügung lasse einen weiten Interpretationsspielraum offen.

Aufgrund der fehlenden Voraussetzungen für die Anordnung einer Kontrollbetreuung wurde der Beschwerde der Bevollmächtigten entsprochen. An einer genauen Sachverhaltsermittlung durch die Fachgerichte fehlte es zudem. Die Vorinstanzen hatten nicht herausgearbeitet, inwieweit der Zustand der Patientin irreversibel und eine Zurückerlangung des Bewusstseins noch möglich ist.

Bewertung

Die Entscheidung des Bundesgerichtshofes schafft in Bezug auf Patientenverfügungen mehr Klarheit. Der dargelegte Sachverhalt zeigt, dass Entscheidungen für das Wohl eines Patienten stark emotional und mit hoher Verantwortung und Sorge getragen werden, und getragen werden müssen. Die Problematik um eine unbestimmte Patientenverfügung hat weitreichende Konsequenzen für alle Beteiligten. Insoweit ist die Entscheidung des Bundesgerichtshofes weisend, als das insbesondere auch auf weitere Äußerungen der Betroffenen Rückgriff genommen werden kann, und gegebenenfalls nicht mehr aktuelle Verfügungen der Betroffenen auf diese Weise zum Wohle aller Beteiligten in einer dem Willen des Patienten gerechten Weise ausgelegt werden können. Die Entscheidung fordert eine ernstliche Befassung mit Patientenverfügungen und den sich hieraus ergebenden Konsequenzen. Patientenverfügungen müssen hinreichend genau bestimmt sein und können nicht auf allgemein gültigen Formulierungen aufbauen, wie der BGH aufgezeigt hat.