Oberlandesgericht Hamm, Urteil vom 30.01.2015 – 26 U 5/14

Hintergrund

Der im Jahre 2005 geborene, im Prozess durch seine Eltern vertretene Kläger verlangte vom Träger des beklagten Krankenhauses und von den ihn während der Schwangerschaft seiner Mutter und während der Geburt behandelnden Ärzte Schadensersatz wegen einer behaupteten ärztlichen Fehlbehandlung anlässlich seiner Geburt.

Die Mutter hatte sich im August 2005 auf Veranlassung ihres während der Schwangerschaft betreuenden, beklagten Arztes in das beklagte Krankenhaus begeben. Dort wurde der Kläger etwa drei Stunden nach dem Eintreffen seiner Mutter und zwischenzeitlichen Untersuchungen durch die ebenfalls beklagten Krankenhausärztinnen mittels Kaiserschnitt geboren. Der Kläger behauptete, eine unzureichende ärztliche Betreuung seiner Mutter habe zu seiner mehrstündigen Sauerstoffunterversorgung geführt und bei ihm schwerwiegende geistige und körperliche Störungen verursacht. Der Kläger verlangte deswegen Schadensersatz, insbesondere ein Schmerzensgeld i.H.v. 150.000 € und eine monatliche Schmerzensgeldrente von 300 €. Das Landgericht hatte ein gynäkologisches Sachverständigengutachten und ein neonatologisches Sachverständigengutachten eingeholt und sich die Gutachten durch die beauftragten Sachverständigen mündlich erläutern lassen. Über die beim Kläger eingetretenen Folgen hatte es zudem – durch ein nur mündlich erstattetes Gutachten des neonatologischen Sachverständigen – Beweis erhoben. Ein drei Tage vor der letzten mündlichen Verhandlung durch den Kläger vorgelegtes privatärztliches Gutachten, das die Ergebnisse des gynäkologischen Gutachtens angriff, wies es als verspätet zurück.

Das Landgericht wies daraufhin die Klage gegen das Krankenhaus und die beklagten Krankenhausärztinnen mangels feststellbaren Behandlungsfehlers ab. Den die Kindsmutter während der Schwangerschaft betreuenden Arzt verurteilte es, weil der Beklagte die Kindsmutter zu spät und ohne ausreichenden Hinweis auf Auffälligkeiten ins Krankenhaus eingewiesen habe. Auf die Berufung des Klägers und des Beklagten hob das Oberlandesgericht die Entscheidung auf und wies die Sache zur weiteren Verhandlung zurück. Das Urteil ist rechtskräftig.

Gründe

Das Urteil war wegen zahlreicher wesentlicher Verfahrensfehler gemäß § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO aufzuheben. Das Landgericht hatte das vorgelegte Privatgutachten zu Unrecht zurückgewiesen. Denn in einem Arzthaftungsprozess, in dem es typischerweise ein Informationsgefälle zwischen der ärztlichen Seite und den Patienten gibt, muss das Gericht in besonderem Maße für ein faires Verfahren sorgen. Dazu gehört es, einer medizinisch nicht sachkundigen Partei Gelegenheit zu geben, auch nach dem Vorliegen eines gerichtlichen Gutachtens unter Zuhilfenahme eines weiteren Mediziners zu schwierigen medizinischen Fragen noch einmal Stellung zu nehmen. Andernfalls wäre die Partei in den meisten Fällen nicht in der Lage, dem gerichtlichen Sachverständigen etwaige abweichende medizinische Lehrmeinungen vorzuhalten, auf mögliche Lücken der Begutachtung hinzuweisen und jegliche Widersprüche im Gutachten aufzuzeigen.

Vor diesem Hintergrund war es nicht gerechtfertigt, dem Kläger die Chance zu nehmen, den gerichtlichen Sachverständigen mit den Einwänden des Privatgutachters zu konfrontieren. Dem Landgericht hätte sich vielmehr aufdrängen müssen, dass der gynäkologische Gutachter einerseits davon ausgegangen war, während er der Klinik selbst über mehrere Stunden noch die vage Möglichkeit einer natürlichen Entbindung zugestanden hatte. Aus diesem Grund hätte das Landgericht die Beweisaufnahme fortsetzen müssen.

Verfahrensfehlerhaft war es zudem, zu den schwierigen medizinischen Fragen der beim Kläger eingetretenen Behandlungsfolgen nur ein mündliches Sachverständigengutachten einzuholen und kein schriftliches Gutachten anzufordern. Schließlich hatten Krankenunterlagen gefehlt und der Sachverständige konnte bestimmte Fragen ad hoc nicht beantworten. In einem solchen Fall kann ein in einer Verhandlung nur mündlich erstattetes Gutachten allenfalls von einem medizinischen Sachverständigen sofort nachvollzogen werden, aber kaum von den weiteren Verfahrensbeteiligten einschließlich der Anwälte und des Gerichts.

Bewertung

In der deutschen verfassungsrechtlichen Rechtsprechung wird der Geltung eines Rechts auf ein faires (rechtsstaatliches) Verfahren ein hoher Stellengrad zugesprochen. Es gehört zu den wesentlichen Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Verfahrens und wird als allgemeines Prozessgrundrecht qualifiziert. Seine Wurzeln liegen im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) in Verbindung mit den Freiheitsrechten und Art. 1 Abs. 1 GG oder (nur) in Verbindung mit dem allgemeinen Freiheitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 GG.

Das Recht auf ein faires Verfahren enthält nach dem BVerfG keine in allen Einzelheiten bestimmten Ge- oder Verbote. Vielmehr bedarf es der Konkretisierung je nach den sachlichen Gegebenheiten. Eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren liegt erst vor, wenn eine Gesamtschau auf das Verfahrensrecht auch in seiner Auslegung und Anwendung durch die Fachgerichte ergibt, dass rechtsstaatlich zwingende Folgerungen nicht gezogen worden sind oder rechtsstaatlich Unverzichtbares preisgegeben worden ist.

In einem Arzthaftungsprozess hat das zuständige Gericht in besonderem Maße für ein faires Verfahren zu sorgen, weil es typischerweise ein Informationsgefälle zwischen der ärztlichen Seite und dem Patienten gibt, welches auszugleichen ist. Dazu gehört es, einer medizinisch nicht sachkundigen Partei Gelegenheit zu geben, auch nach dem Vorliegen eines gerichtlichen Gutachtens unter Zuhilfenahme eines weiteren Mediziners zu schwierigen medizinischen Fragen noch einmal Stellung zu nehmen.