EuGH in der Rechtssache C-126/16

Hintergrund

Die Federatie Nederlandse Vakvereniging, eine niederländische Gewerkschaftsvereinigung (FNV), sowie vier Arbeitnehmerinnen standen mit der niederländischen Gesellschaft Smallsteps BV im Rechtsstreit über die Feststellung eines Übergangs von Arbeitsverhältnissen auf diese Gesellschaft.

Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof betraf die Auslegung der Art. 3 bis 5 der Richtlinie 2001/23/EG des Rates vom 12. März 2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens-oder Betriebsteilen (Abl. 2001, L 82, S. 16).

Die Estro Groep BV (Estro-Gruppe) war das größte Unternehmen für Kinderbetreuung in den Niederlanden. Es unterhielt 380 Einrichtungen und hatte 3600 Mitarbeiter. Ab November 2013 führte das Unternehmen aufgrund drohender Zahlungsschwierigkeiten ab dem damals bevorstehenden Sommer 2014 Gespräche mit potenziellen Geldgebern. Diese blieben erfolglos.

Parallel bereitete das Unternehmen den Neustart eines wesentlichen Teils des Unternehmens im Anschluss an ein Pre-pack vor. In diesem Rahmen sollten 243 der insgesamt 380 Einrichtungen wieder eröffnet werden, und 2500 der insgesamt 3600 Arbeitsplätze erhalten werden. Die Dienstleistungen sollten sodann im Juli 2014 fortgeführt werden. Zur Durchführung dieses Projektes kontaktierte die Estro-Gruppe die Schwestergesellschaft H.I.G. Capital ihres Hauptgesellschafter Bayside Capital.

Am 5. Juni 2014 beantragte die Gruppe beim Bezirksgericht Amsterdam die Bestellung eines Verwalters in spe. Die Bestellung erfolgte am 10. Juni 2014. Am 20. Juni 2014 wurde die im Verfahren streitende Partei, Smallsteps, gegründet. Diese sollte einen Großteil der Kindertagesstätten und einen Großteil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer übernehmen.

Am 3. Juli 2014 wurden die Mitarbeiter der Estro-Gruppe durch eine E-Mail auf die Stellung eines Antrags auf Konkurseröffnung am 4. Juli 2014 informiert. Es wurde auf eine mögliche Versammlung der Mitarbeiter hingewiesen. Am 4. Juli 2014 erfolgte beim Bezirksgericht Amsterdam die Antragstellung auf Zahlungsaufschub. Am 5. Juli 2014 erfolgte die Umwandlung des Antrags auf Eröffnung des Konkurses. Am Folgetag wurde der Konkurs eröffnet. Ebenfalls am 5. Juli 2014 wurde ein Pre-pack zwischen dem Verwalter und Smallsteps unterzeichnet. Smallsteps übernahm hiernach 250 Einrichtungen und verpflichtete sich, 2600 Mitarbeitern der Estro-Gruppe einen Arbeitsplatz anzubieten. Am 7. Juli 2014 wurden durch den Verwalter aller Mitarbeiter der Estro-Gruppe entlassen. Vertragsgemäß wurde 2600 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ein neues Beschäftigungsverhältnis angeboten. Mehr als 1000 Beschäftige wurden letzten Endes entlassen.

Gegen diese Entlassung wandten sich die FNV und vier ehemalige Mitarbeiterinnen der Estro-Gruppe mit Klage vor dem Gericht der zentralen Niederlande. Sie begehrten die Feststellung der Anwendbarkeit der Richtlinie 2001/23 auf die Pre-pack und damit die Feststellung, dass ihr Arbeitsverhältnis zu unveränderten Arbeitsbedingungen von Rechts wegen bei Smallsteps fortgeführt wird. Hilfsweise machten sie die Feststellung der Anwendbarkeit der Art. 7:662 ff. BW geltend. Der Unternehmensübergang habe vor der Eröffnung des Konkurses über das Vermögen der Estro-Gruppe stattgefunden.

Das Gericht der zentralen Niederlande legte die Sache im Hinblick auf die Richtlinie im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens dem Europäischen Gerichtshof vor und setzte das Verfahren aus.

Beurteilung des Gerichtshofes

Der EuGH stellt fest, dass die streitgegenständliche Richtlinie auf den Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer abzielt, insbesondere dadurch, dass sie die Wahrung ihrer Ansprüche bei einem Inhaberwechsel gewährleistet.

Es ergibt sich die Frage, ob der Arbeitnehmerschutz der Richtlinie Anwendung findet.

Wie der EuGH feststellt, weicht Art. 5 I der Richtlinie 2001/23 von den Schutzregeln der Art. 3 und 4 ab, indem der Schutz für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Fällen bestimmter Unternehmensübergänge nicht gilt. Demnach ist dieser eng auszulegen.

Für den Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen die Voraussetzungen der Richtlinie, des Art. 5 I Richtlinie 2001/23, gegeben sein, damit der Schutz der Richtlinie nicht greift.

Der EuGH stellt fest, dass das Pre-back vor dem Antrag auf Eröffnung des Konkurses vorbereitet wurde, jedoch erst nach dem Antrag vollzogen wurde.

Erstens falle dieser Sachverhalt unter den Begriff „Konkursverfahren“ im Sinne der Richtlinie.

Zweitens müsse das Konkursverfahren die Auflösung des Vermögens des Unternehmens zum Ziel haben. Nach der Rechtsprechung des EuGH falle ein Verfahren, dass die Fortführung der Geschäftstätigkeit zum Ziel habe, nicht hierunter. Diese Fortführung der Geschäftstätigkeit sei gegeben, wenn das Verfahren auf die Erhaltung der Funktionstüchtigkeit des Unternehmens oder der bestandsfähigen Unternehmenseinheiten abziele.  Die möglichst hohe kollektive Befriedigung der Gläubiger ziele auf die Auflösung des Vermögens ab.

Im Streitfall ging es um ein Pre-pack, so der EuGH. Das Pre-pack diene der Vorbereitung der Übertragung eines Unternehmens im Detail und ziele auf den zügigen Neustart bestandsfähiger Unternehmensteile nach Eröffnung des Konkursverfahrens ab. Ziel sei, den Unternehmenswert und die Arbeitsplätze nach der Eröffnung des Konkursverfahrens zu erhalten.

Anhand dessen sei nicht ersichtlich, warum die ehemaligen Mitarbeiter der Estro-Gruppe die Rechte verlieren sollen, die ihnen die Richtlinie zuerkennt. Der Vorgang ziele nicht auf die Liquidation des Unternehmens ab.

Das Pre-pack habe nach Auffassung des EuGH das primäre Ziel, das insolvente Unternehmen zu erhalten.

Der EuGH stellt fest, dass dem Verwalter in spe und dem Konkursrichter in spe formell keine Befugnisse zustehen und das Verfahren durch die Unternehmensleitung durchgeführt werden muss. Der Verwalter und der Richter unterlägen keiner Aufsicht durch eine zuständige öffentliche Stelle. Eine Überwachung durch eine zuständige öffentliche Stelle ist nach der Richtlinie erforderlich. Im niederländischen Recht fehle es an einer gesetzlichen Grundlage.

Aus diesem Grund sei ein Rückgriff auf Art. 5 I der Richtlinie 2001/23 nicht möglich.

Im Ergebnis gelten nach Auffassung des EuGH die durch die Art. 3 und 4 der Richtlinie 2001/23 gewährleisteten Rechte für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

Bewertung

Der EuGH hat sich deutlich für den Schutz der Arbeitnehmerrechte ausgesprochen. Auf Grundlage dieses Urteils muss nun das Gericht der zentralen Niederlande entscheiden. Es wird sich wohl im Sinne der Kläger entscheiden.

Für Unternehmen, Arbeitgeber, bedeutet die Beurteilung des EuGH eine neue Hürde. Wenn auf diese Weise Arbeitnehmerrechte durchsetzbar sind, stehen erforderliche Umstrukturierungen aufgrund von Kapitalengpässen vor gesteigerten Voraussetzungen. Arbeitnehmer werden im Fall eines Pre-pack gehalten werden müssen. Die Lösung kann in diesem Fall im Sinne der Unternehmen nur die Liquidation und der Neuaufbau sein.