Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 11.07.2017 – 1 BvR 1571/15, 1 BvR 1043/16, 1 BvR 2883/15, 1 BvR 1588/15

Hintergrund

Durch das Tarifeinheitsgesetz schuf der Gesetzgeber eine Regelung für den Fall der Kollision von Tarifverträgen mehrerer Gewerkschaften. Dieses Gesetz sieht den Vorrang der Gewerkschaft mit mehr Mitgliedern vor. Im gerichtlichen Beschlussverfahren soll die Feststellung einer solchen Mehrheit erfolgen. Gegenüber den anderen Gewerkschaften  besteht Informationspflicht über die Aufnahme von Tarifverhandlungen für den Arbeitgeber. Die anderen Gewerkschaften müssen mit ihren tarifpolitischen Forderungen angehört werden. Bei Verdrängung des Tarifvertrages der Gewerkschaft mit weniger Mitgliedern besteht für diese ein Anspruch auf Zeichnung des verdrängenden Tarifvertrags.

Mit Verfassungsbeschwerde wendeten sich Berufsgruppengewerkschaften, Branchengewerkschaften, ein Spitzenverband und ein Gewerkschaftsmitglied gegen das Tarifeinheitsgesetz. Sie machten die Verletzung der Koalitionsfreiheit, ausgehend von Art. 9 III GG geltend.

Das Bundesverfassungsgericht urteilte, dass das Tarifeinheitsgesetz weitgehend verfassungskonform ist. Auslegung und Handhabung des Gesetzes müssen jedoch der grundrechtlich geschützten Tarifautonomie entsprechen, ferner sei die Entscheidung von Einzelfällen durch Fachgerichte erforderlich.

Für verfassungswidrig erklärte das Bundesverfassungsgericht den Ausschluss einzelner Berufsgruppen oder Branchen durch das Gesetz. Hier sei Nachbesserung durch den Gesetzgeber erforderlich. Der Gesetzgeber muss nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts bis zum 31. Dezember 2018 eine Neuregelung schaffen. Bis zu diesem Zeitpunkt ist durch die Gewerkschaft mit mehr Mitgliedern vorzutragen, dass die Interessen der Gewerkschaft mit weniger Mitgliedern im Tarifvertrag ernsthaft und wirksam Berücksichtigung finden.

Gründe

Das  Bundesverfassungsgericht führt aus, dass ausgehend von der Berichtigung des Gesetzgebers, Art. 9 III GG, zur Regelung von Tarifverhandlungen die Schaffung rechtlicher Rahmenbedingungen möglich ist. Hierbei bestehe ein weiter Handlungsspielraum. Die durch den Gesetzgeber geschaffenen Regelungen des Tarifeinheitsgesetzes entsprechen den grundrechtlichen Anforderungen. Der Zweck des Gesetzes, das Setzen von Anreizen für ein kooperatives Vorgehen der Arbeitnehmerseite in Tarifverhandlungen und die daraus resultierende Vermeidung von Tarifkollisionen, sei geeignet, das legitime Ziel, Regelung der Sicherung der strukturellen Voraussetzungen von Tarifverhandlungen für das Verhältnis der Gewerkschaften untereinander, zu verfolgen, auch wenn die Effektivität nicht vollends ersichtlich sei. Eine Einschätzungsprärogative liege beim Gesetzgeber. Die Belastungen des Tarifeinheitsgesetzes sein überwiegend zumutbar. Den Tarifvertragsparteien stehe die Anwendung der Kollisionsregelung frei. Die Parteien können selbst die Nichtanwendung vereinbaren. Im übrigen sein die Arbeitsgerichte verpflichtet, im Falle einer Kollision mögliche Grundrechtsverletzungen durch die Verdrängung durch eine Auslegung weitgehend zu kompensieren. Unzumutbare Härten sein im Hinblick auf tarifvertragliche garantierte Leistungen zu vermeiden. Dies gelte insbesondere für Leistungen, auf die Arbeitnehmer in berechtigterweise vertrauen, beispielsweise Leistungen zur Alterssicherung, zur Arbeitsplatzgarantie oder zur Lebensarbeitszeit. Eine Regelung im Tarifeinheitsgesetz bestehe hier nicht. Soweit eine Kompensation dieser Problematik durch die Fachgerichte nicht möglich ist, besteht nach Beurteilung des Bundesverfassungsgerichts die Pflicht des Gesetzgebers zur Neuregelung. Ferner bestehe auch eine Kompensation durch die Auslegung der Regelung für den Kollisionsfall. Eine Verdrängung eines Tarifvertrages dauere nur so lange an, wie der Vertrag läuft bzw. ein neuer Vertrag den alten Vertrag verdrängt. Durch den Anspruch der Gewerkschaften mit weniger Mitgliedern auf Nachzeichnung eines Tarifvertrages werde ebenfalls die Regelung der Verdrängung bzw. die Härte der Regelung der Verdrängung weiter kompensiert, bzw. abgemildert. Im Übrigen bestehe, dies mildere auch die Wirkung des Gesetzes ab, das Recht der Gewerkschaften mit weniger Mitgliedern zur Beteiligung am Verfahren.

Das Beschlussverfahren zur Feststellung der Stärke der Gewerkschaften sei dahingehend durchzuführen, dass die Stärke der Gewerkschaft nicht offensichtlich wird.

In Bezug auf eine einseitige Vernachlässigung der Angehörigen einzelner Berufsgruppen oder Branchen durch andere Mehrheitsgewerkschaften ist das Tarifeinheitsgesetz nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nachzubessern. Es bestehe die Möglichkeit zur Übergehung der Interessen kleinerer Berufsgruppen.

  • 4a TVG erklärte das Bundesverfassungsgericht für teilweise verfassungswidrig. Das Problem bestehe jedoch nicht im Kern der Regelung.

Bewertung

Der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist zuzustimmen. Der Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der sozialen Sicherheit der Universität Bonn, Prof. Dr. Gregor Thüsing LLM., sagte der WELT, dass das Bundesverfassungsgericht „erkennbar verfassungsrechtliche Bauchschmerzen“ geäußert habe. Thüsing hob die Sorge einer Gewerkschaft in einem Betrieb für die Solidarität aller Berufsgruppen hervor, führte jedoch kritisch hierzu aus, dass „allerdings [muss] auch umgekehrt gewährleistet sein muss, dass die Mehrheitsgesellschaft sich solidarisch mit Minderheiten in dem Betrieb verhält und deren Interessen wahrt“. Wie das Bundesverfassungsgericht eindeutig herausstellt, fehlt es derzeit am Schutz für kleinere Berufsgruppen. Hier besteht eindeutig Nachbesserungsbedarf. Wie auch Thüsing ausführt, fehlt es dem Urteil an Vorschlägen für die Neuregelung dieser Problematik, auch wenn dies primär die Aufgabe des Gesetzgebers ist. Das Bundesverfassungsgericht zeigt mit seinem Urteil deutliche Mängel des Gesetzes auf. Es ist abzuwarten, inwiefern Fachgerichte den durch das Bundesverfassungsgericht aufgestellten Anforderungen an die Umsetzung des Gesetzes gerecht werden, oder ob doch auch in diesen genannten Punkten eine Nachbesserung durch den Gesetzgeber erforderlich sein wird. Auch bleibt abzuwarten, wie der Gesetzgeber den Schutz kleinerer Berufsgruppen mit einer Neuregelung in verfassungskonformer Weise erreicht.