Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 27. 07.2017 – 2 BvR 1333/17

Hintergrund

Streitig zwischen den Parteien ist, ob unmittelbar der Beschluss des Hessischen Verfassungsgerichtshofes vom 23. Mai 2017 über die Feststellung einer hinreichenden Rechtsgrundlage für die Anordnung eines Kopftuchverbotes und mittelbar der Erlass des Hessischen Ministeriums der Justiz vom 28. Juni 2007 in die Grundrechte der Beschwerdeführerin aus Art. 12 I GG, Art. 4 I und II GG, Art. 2 I in Verbindung mit Art. 1 I GG  und Art. 3 I und III GG eingreift.

Die Beschwerdeführerin beantragte den Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Die Beschwerdeführerin besitzt die deutsche und die marokkanische Staatsangehörigkeit. Als Ausdruck ihrer individuellen Glaubensüberzeugung trägt sie in der Öffentlichkeit ein Kopftuch.

Seit dem 2. Januar 2017 ist die Beschwerdeführerin Rechtsreferendarin im Land Hessen. Seit Mai 2017 ist sie in der Ausbildungsstation Strafrecht.

Aufgrund eines Erlasses des Hessischen Ministeriums der Justiz vom 28. Juni 2007 (2220-V/A3-2007/6920-V) ist es untersagt, mit Kopftuch während der Ausbildung im Gerichtssaal auf der Richterbank zu sitzen, Sitzungsleitungen oder Beweisaufnahmen durchzuführen, Sitzungsvertretungen  für die Staatsanwaltschaft zu übernehmen oder während der Ausbildung in der Verwaltungsstation einen Anhörungsausschuss zu leiten. Vor Aufnahme der Ausbildung erhielt die Beschwerdeführerin durch das Oberlandesgericht ein Hinweisblatt über den Inhalt des Erlasses und erklärte am 7. Dezember 2016 die Annahme des Ausbildungsplatzes und die Kenntnisnahme des Hinweisblattes. Am 9. Januar legte die Beschwerdeführerin eine Beschwerde gegen die Verwaltungspraxis ein. Der Präsident des Landgerichts Frankfurt am Main teilte der Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 24. Januar 2017 und Verweis auf den Erlass mit, dass ihm ein Abhelfen nicht möglich ist.

Ein darauf folgendes Verfahren mit Schriftsatz vom 10. Februar 2017 und Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes vor dem Verwaltungsgericht Frankfurt am Main blieb erfolglos. Aufgrund des Eilverfahrens vor dem Verwaltungsgericht teilte das Justizprüfungsamt dem Präsidenten des Oberlandesgerichts mit, auf eine negative Bewertung nicht erbrachter Ausbildungsleistungen aufgrund des Erlasses infolge einer Weigerung auf das Tragen des Kopftuches aus religiösen Gründen zu verzichten und die Möglichkeit zur Kompensation durch andere Leistungen zu ermöglichen.

Sodann verpflichtete das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main mit Beschluss vom 12. April 2017 das Land Hessen, die Wahrnehmung der Ausbildung der Beschwerdeführerin ohne Beschränkung des Erlasses mit Kopftuch zu gewährleisten. Es fehle an einer ausreichenden Rechtsgrundlage für den Erlass. Im Übrigen sei der Inhalt des Erlasses aus verfassungsrechtlichen und den sich aus dem Gesetz ergebenden Gründen unverhältnismäßig.

Auf Beschwerde des Landes Hessen hob der Hessische Verfassungsgerichtshof den Beschluss des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 12. April 2017 mit Beschluss vom 23. Mai 2017 auf. Es mangele nicht an einer Rechtsgrundlage und es bestünden keine verfassungsrechtlichen Bedenken.

Am 23. Mai 2017 nahm die Beschwerdeführerin an einem Lehrgang zur Vorbereitung auf die Sitzung für die Amtsanwaltschaft teil. Ihr Sitzungstermin wurde auf den 6. Juli angesetzt. Mit E-Mail vom 2. Juni 2017 bot das Rechtsamt – 30.1 Zivilrecht – der Stadt Frankfurt am Main der Beschwerdeführerin ein Referendariat im Rahmen der Verwaltungsstation ab dem September 2017 an.

Die Beschwerdeführerin erhob Klage vor dem Verwaltungsgericht Frankfurt am Main mit Schriftsatz vom 6. Juni 2017. In dieser Sache wurde bisher nicht entschieden.

Die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin, Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, wird durch das Bundesverfassungsgericht abgelehnt. Die Beschwerde ist zulässig, aber unbegründet. Die Folgenabwägung des Gerichts führt nicht zum Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Gründe

Das Bundesverfassungsgericht stellt fest, dass ein Verbot die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft durch das Befolgen von religiös begründeten Bekleidungsregeln zu zeigen, in Fällen, in denen ein Rechtsreferendar als Repräsentant des Staates wahrgenommen wird oder wahrgenommen werden könnte, in die individuelle Glaubensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG eingreift. Die Grundrechtsberechtigung werde insbesondere nicht „durch die Eingliederung in den staatlichen Aufgabenbereich von vornherein oder grundsätzlich in Frage gestellt“. Auch im juristischen Vorbereitungsdienst könne sich auf dieses Recht berufen werden, so das Bundesverfassungsgericht. Eine Berührung der persönlichen Identität,  geschützt durch Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG, und der Berufsfreiheit, geschützt durch Art. 12 I GG, sei möglich.

Jedoch greife das Kopftuchverbot in die Grundrechte der Beschwerdeführerin in örtlicher und zeitlicher Hinsicht nur begrenzt ein. Die Beschwerdeführerin werde nur „von der Repräsentation der Justiz oder des Staates im Rahmen der Ausbildung“ ausgeschlossen. Alle übrigen Ausbildungsinhalte bleiben unberührt. Das Gericht betont in diesem Zusammenhang, dass ein Beiwohnen bei den Sitzungen und Verhandlungen als Zuschauer stets möglich ist und im Übrigen kein gesetzlicher Anspruch auf die Wahrnehmung der Übernahme von Repräsentationsaufgaben bestehe. Eine Verwehrung der Vorgaben der §§ 28 JAG erfolge nicht.

Insoweit äußert sich das Gericht nicht zu den vorgetragenen vertagten Sitzungsterminen und der Stelle in der Verwaltungsstation. Hierzu lagen dem Gericht keine weiteren Angaben vor, im Übrigen ist ein Vorstellungsgespräch zum Entscheidungszeitpunkt nicht durchgeführt worden.

Im Übrigen hält das Bundesverfassungsgericht fest, dass eine Verweigerung der Erbringung von Leistungen aus religiösen Gründen keinen negative Auswirkung auf die Gesamtnote der Ausbildungsstation haben soll.

Die Interessen der Beschwerdeführerin stehen den verfolgten Belangen des Landesgesetzgebers entgegen. Hier steht die Pflicht des Staates zur weltanschaulich-religiösen Neutralität. „Diese Pflicht verwehrt die Einführung staatskirchlicher Rechtsformen und untersagt die Privilegierung bestimmter Bekenntnisse ebenso wie die Ausgrenzung Andersgläubiger“. Der Staat habe auf eine Gleichbehandlung der verschiedenen Religions-und  Weltanschauungsgemeinschaften zu achten. „Die dem Staat gebotene weltanschaulich-religiöse Neutralität ist indessen nicht als eine distanzierende im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche zu verstehen, sondern als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung“. Eine gezielte Beeinflussung sei ausgeschlossen. Eine Bewertung durch den Staat sei verwehrt. Das Verständnis des Verhältnisses von Staat und Kirche, wie es durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Ausdruck komme, gelte insbesondere für den vom Staat garantierten und gewährleisteten Bereich der Justiz. Richterliche Tätigkeit erfordere unbedingte Neutralität gegenüber den Verfahrensbeteiligten. Auch Rechtsreferendare haben in der Rolle als Repräsentanten von Staat und Justiz das Neutralitätsgebot zu wahren.

Das Kopftuch sein ein religiös konnotiertes Kleidungsstück und damit Bekenntnis zu einer religiösen Überzeugung.

Insbesondere sei die negative Glaubens-und Bekenntnisfreiheit, das Recht kultischen Handlungen eines nicht geteilten Glaubens fernzubleiben, aller Prozessbeteiligten zu berücksichtigen.

Im Bereich der Justiz könne von einer unausweichlichen Situation gesprochen werden, so das Bundesverfassungsgericht. Prozessbeteiligte können sich in ihrem Recht aus Art. 4 I GG verletzt fühlen, wenn sie einen Prozess mit Repräsentanten des Staates führen, die ihre religiöse und weltanschauliche Auffassung erkennbar nach Außen tragen.

Bewertung

Der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist uneingeschränkt zuzustimmen. Wie das Bundesverfassungsgericht erneut betont hat, steht die Glaubens-und Bekenntnisfreiheit in enger Beziehung mit der Menschenwürde (grundlegend: BVerfG, Beschluss vom 16. 10.1968, 1 BvR 241/66, BVerfGE 24, S. 236 (246)) und muss extensiv ausgelegt werden. Wie das Gericht deutlich macht, steht das Recht auf Glaubens-und Bekenntnisfreiheit eines Einzelnen immer dem Recht auf Glaubens-und Bekenntnisfreiheit eines anderen Einzelnen gegenüber. Dies muss Berücksichtigung finden. Insbesondere müssen die einzelnen Aspekte des Sachverhaltes in den Augenschein genommen werden. Wie die Kammer betont, ist das Kopftuchverbot zeitlich und räumlich begrenzt, wirkt sich nicht negativ auf die Leistungsbewertung aus und schränkt im Übrigen die Ausbildungsvorgaben nicht ein. Die Entscheidung hat in sofern Strahlkraft, als sie erneut die Auffassung des Bundesverfassungsgericht zum hohen Gut der Glaubens-und Bekenntnisfreiheit betont und ganz besonders verdeutlicht, dass sich immer die Rechte von Betroffenen gegenüberstehen und insoweit abgewogen werden muss. Wie vor dem Verwaltungsgericht Frankfurt am Main entschieden wird, bleibt abzuwarten.

Dr. iur Christoph Roos

Fachanwalt für Arbeitrecht