Bundesarbeitsgericht Hamm, Urteil vom 17.03.2016, 2 AZR 182/15
Hintergrund
Die Klägerin, geboren 1967, ist seit August 1996 bei der Beklagten als Maschinenbedienerin tätig.
Am Sitz in G führte die Beklagte den Betrieb „S/t“, der aus zwei Betrieben mit derzeit 800 Arbeitnehmern bestand, für den ein Betriebsrat gewählt wurde. Im Rahmen eines Interessenausgleichs der Beklagten mit dem Betriebsrat, sollten aufgrund eines Umsatzrückgangs im Bereich, in dem die Klägerin tätig war, Arbeitsplätze zum 31.12.2012 entfallen.
Mit Schreiben vom 09.08.2012 hörte die Beklagte den Betriebsrat zu einer ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit der Klägerin an, die zum 31.03.2013 erfolgen sollte. Zudem wurde der Betriebsrat vorsorglich zu einer ordentlichen Änderungskündigung angehört, welche anstelle der Beendigungskündigung ausgesprochen werden sollte, sofern eine freie Stelle nach dem im Interessenausgleich vereinbarten Sozialplan oder ein Wechsel in die Transfergesellschaft in Betracht käme. Andere freie Stellen stünden dem Unternehmen nicht zur Verfügung. Den Wechsel in die Transfergesellschaft hat die Klägerin abgelehnt. Sodann erging die Beendigungskündigung.
Streitig zwischen den Parteien ist die Wirksamkeit einer ordentlichen betriebsbedingten Kündigung.
Die Klägerin beantragt, festzustellen, dass das zwischen der Beklagten und ihr bestehende Arbeitsverhältnis durch die Kündigung vom 27.09.2012 seitens der Beklagten nicht aufgelöst wurde. Der Klägerin zufolge sei die Kündigung sozial ungerechtfertigt. Ihr Arbeitsplatz sei nicht weggefallen, zudem habe in einer anderen Abteilung eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit bestanden. Die soziale Auswahl sei grob fehlerhaft erfolgt.
Die Beklagte hingegen macht geltend, dass die tatbestandlichen Voraussetzung des § 1 V KVSchG vorlägen. Die Kündigung erging aufgrund des Personalabbaus und erfüllte die Voraussetzung einer Betriebseinschränkung iSv § 11 S:.3 NR.1 BetrVG. Die im Interessenausgleich vereinbarten Maßnahmen seien Bestandteil eines „in Wellen“ vorgenommenen Stellenabbaus auf Grundlage einer einheitlichen unternehmerischen Planung aus dem Jahr 2011. Die Kündigung sei demnach vermutlich durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt.
Das Arbeitsgericht Bielefeld hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht Hamm hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgte die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter, der jedoch keinen Erfolg hatte.
Gründe
Die Vorinstanzen haben der Kündigungsschutzklage zu Recht stattgegeben. Das Arbeitsverhältnis wurde nicht durch die Kündigung vom 27.09.2012aufgelöst. Die Kündigung ist nach § 1 II 1 KSchG unwirksam.
Die Verpflichtungen nach § 102 I 1 BetrVG den Betriebsrat vor jeder Kündigung zu hören und ihm die Gründe für eine Kündigung mitzuteilen gelten auch bei Vorliegen eines Interessenausgleichs. Bei einer unzulässigen Anhörung „auf Vorrat“ kann der Betriebsrat sich lediglich gutachterlich zu einem fiktiven Sachverhalt äußern. Eine solche liegt im Streitfall jedoch nicht vor. Die subjektiven Kündigungsüberlegungen der Beklagten waren bereits abgeschlossen. Das hindert den Betriebsrat jedoch nicht Bedenken oder Änderungsanmerkungen zu äußern, gar sein Widerspruchsrecht wahrzunehmen.
Die Anhörung war zudem auch nicht unwirksam, da sie sowohl zu einer Beendigungs- als auch alternativ einer Änderungskündigung erfolgte.
Die Beklagte könne sich nicht auf die Vermutung der Betriebsbedingtheit der Kündigung gem. § 1 V 1 KSchG berufen, da es im Streitfall bereits an einer hinreichenden Vermutungsbasis fehle. Zum Kündigungszeitpunkt war lediglich für einen nicht abgrenzbaren Teil der behaupteten Betriebsänderung ein Interessenausgleich geschlossen worden, der sich an vorausgehende bereits durchgeführte Maßnahmen anschloss. Für letztere haben die Betriebsparteien keinen Interessenausgleich abgeschlossen. Die Vermutungswirkung des § 1 V 1 KSchG treten nur dann ein, wenn sich die Betriebsparteien vollumfänglich über die der Kündigung zu Grunde liegende Betriebsänderung verständigt haben, §§ 111 S.1, 112 BetrVG . § 1 V KSchG schließt zwar das Verständnis nicht aus, dass ein über Teile der Betriebsänderung geschlossener Interessenausgleich ausreichend sei. Dies wiederspreche aber dem Telos von § 1 V KSchG, der durch die normierten Erleichterungen das Ziel verfolgt, bei betriebsbedingten Kündigungen einer größeren Zahl von Arbeitnehmern erhöhte Rechtssicherheit zu erlangen. Dem Willen des Gesetzgebers zufolge solle aus den Rechtsfolgen des § 1 V und 2 KSchG eine Steigerung der Einbeziehung und des Einfluss des Betriebsrates und durch Überprüfung von Interessenausgleichen dessen Verantwortung erfolgen. Wenn aber der Arbeitgeber nach Scheitern eines Interessenausgleichs über Teile der betriebsändernden Maßnahme diese ohne Mitwirkung des Betriebsrates durchführen könne, ermangele es einer solchen Einflussnahmemöglichkeit.
Losgelöst vom Eingreifen der Vermutungswirkung des § 1 V 1 KSchG ist die Kündigung nicht sozialgerechtfertigt. Dem Landesarbeitsgericht zufolge sei die Beklagte ihrer Darlegungslast aus § 1 II 4 KSchG nicht nachgekommen.
Bewertung
Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts überzeugt. Das Urteil knüpft an die Grundsätze der Beteiligung des Betriebsrates bei einer Kündigung, §§ 102 ff BetrVG, an. Durch das Erfordernis, dass ein Interessenausgelich zwecks Wirksamkeit sich über die gesamte Betriebsänderung erstrecken muss, wird die Position des Betriebsrates bestärkt. Mithin wird das Urteil auch der Schutzrichtung des Arbeitsrechts gerecht, indem es die obigen Voraussetzungen unterstreicht und dem Arbeitnehmer dadurch ein wirksames Sprachrohr im Falle einer Kündigung in Form vom Betriebsrat, gegen den Arbeitgeber gibt.