Oberlandesgericht Hamm, Urteil vom 04.07.2017 – 26 U 3/17

Hintergrund

Die Klägerin befand sich in der kieferorthopädischen Behandlung der beklagten Zahnärzte. Bei der Klägerin sind mehrere bleibende Zähne nicht angelegt. Die an ihrer Stelle vorhandenen Milchzähne sollten solange wie möglich erhalten bleiben und später durch Implantate ersetzt werden. Im Frühjahr 2013 beschliff eine in der Praxis arbeitende, im Prozess mitverklagte Zahnärztin die Milchzähne der seinerzeit 18 Jahre alten Klägerin, um die spätere implantologische Versorgung vorzubereiten. Die Milchzähne wurden in ihrer Breite reduziert, was aus Sicht der Beklagten geboten war, um später passgenaue Implantate einsetzen zu können.

Dieses sog. Slicen hält die Klägerin für eine fehlerhafte Behandlung, die zudem fehlerhaft durchgeführt worden sei, weil die Milchzähne nach dem Entfernen des Zahnschmelzes sehr temperaturanfällig gewesen seien und sich in kurzer Zeit Karies gebildet habe. Die Klägerin verlangt deswegen 2.000 € Schmerzensgeld und die Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für künftige materielle und immaterielle Schäden.

Das LG gab der Klage statt. Die Berufung der Beklagten hatte vor dem OLG keinen Erfolg. Das Urteil ist rechtskräftig.

Gründe

Es liegen zahnärztliche Behandlungsfehler vor, die ein Haftung der Beklagten begründen.

Die beklagte Zahnärztin hat die Schleifmaßnahmen grob fehlerhaft ausgeführt. Bei zwei Milchzähnen wurde zu viel Material entfernt. Es sind sog. Dentinwunden entstanden. Bei einem weiteren Milchzahn wurde grenzwertig viel Zahnschmelz abgeschliffen. Zudem ist bei den drei Zähnen eine ungleichmäßige Oberfläche entstanden, durch welche sich Speisereste festsetzen können und die die Zahnreinigung erschwert. Infolge des fehlerhaften Slicens sind die Milchzähne geschädigt, ihre Langzeitprognose hat sich verschlechtert.

Der Einwand der Beklagten, nur durch ein derartiges Beschleifen habe man später auf beiden Seiten von Ober- und Unterkiefer gleich breite Implantate einsetzen und so ein in optischer Hinsicht harmonisches Ergebnis erhalten können, rechtfertigt die Behandlung nicht. Die Sachverständige hat klargestellt, dass es für ein harmonisches Ergebnis sowie ebenfalls für die Kaufähigkeit und die Zahnpflege nicht erforderlich ist, dass die Zähne rechts und links später gleich breit sind; entscheidend ist vielmehr ihre richtige Verzahnung.

Die der fehlerhaften Behandlung zurechenbaren, bei der Klägerin bereits eingetretenen Folgen (erlittene Schmerzen, behandlungsbedürftige Dentinwunden, Temperaturempfindlichkeit, Kariesbildung an zwei Zähnen, eine verschlechterte Langzeitprognose) rechtfertigen das vom LG festgesetzte Schmerzensgeld i.H.v. 2.000 €. Im Hinblick darauf, dass noch nicht absehbar ist, welche weiteren gesundheitlichen Folgen sich künftig aus der grob fehlerhaften Behandlung ergeben, ist auch der Feststellungsantrag begründet.

Bewertung

Die Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamm ist nachvollziehbar. Von einem groben Behandlungsfehler geht der Bundesgerichtshof aus, wenn dem Arzt ein Fehlverhalten vorzuwerfen ist, dass “aus objektiver ärztlicher Sicht” nach dem für Ärzte allgemein anwendbaren Ausbildungs- und Wissensstand unverständlich und unverantwortlich erscheint, weil ein solcher Fehler dem Arzt keinesfalls unterlaufen darf. Von einem praktizierenden Zahnarzt ist zu erwarten, dass er beim sog. Slicen eine seinem erlernten Handwerk entsprechende Menge an Zahnschmelz abträgt, ohne dass eine ungleichmäßige, der Gesundheit der Klägerin entgegenstehende Zahnoberfläche entsteht. Die Annahme eines groben Behandlungsfehlers ist berechtigt.